Interview: Laslo Seyda
Frau Diehl, in den vergangenen zehn Jahren haben Sie viel zum Thema Mobilität publiziert,
haben Blogs geschrieben, Sachbücher herausgebracht und Podcasts produziert. Warum jetzt
ein Kinderbuch?
Katja Diehl: Die Idee für ein Kinderbuch liegt tatsächlich schon seit zehn Jahren bei mir in der Schreibtischschublade, sie ist eine meiner ältesten Ideen. Es gab sogar schon mal erste Skizzen einer anderen Illustratorin. Aber ich hatte einfach nie die richtigen Partner, um diese Idee auch umzusetzen. Die meisten, denen ich die Idee zu dem Buch vorgestellt habe, haben das gar nicht verstanden. Viele Kinderbuchverlage gehören inzwischen zu großen Konzernen, da ist wenig Platz für Experimente. Alles, was denen zum Thema Mobilität einfällt, sind Bücher über Verkehrsregeln, Science-Fiction mit fliegenden Autos oder irgendwelche Wimmelbücher, die nur den Jetzt-Zustand verstetigen, der so vielen Menschen schaden.
Was macht Ihr Buch denn anders?
Katja Diehl: Ich zeige, dass eine Welt auch ohne Autos möglich ist. Eine Person, die im Jahr 2010 geboren wurde, kann sich das ja oft gar nicht vorstellen, das weiß ich aus meinen vielen Interviews. Das Problem ist, dass Kinderbücher meistens nicht von Kindern, sondern von Erwachsenen geschrieben werden. So großartig Pettersson und Findus, Pippi Langstrumpf oder die Tigerente aber auch sind: Es braucht dringend mehr Kinderbücher, die die Lebensrealität von Kindern abbilden – und Bücher, die auch dazu inspirieren, diese Lebensrealität zu hinterfragen. Zurzeit wird das Leben von Kindern nämlich krass vom
Verkehr eingeschränkt.

Wie genau äußert sich das?
Katja Diehl: Laut einer Studie aus der Zeit vor der Corona-Pandemie sind gerade einmal 45 Prozent der Kinder täglich an der frischen Luft. Und mit der Pandemie ist es ja nicht gerade besser geworden. Kinder werden nur noch vom geschlossenen Raum zum geschlossenen Raum gebracht. Warum sollten sie auch vor die Tür gehen? Nirgendwo sind sie unabhängig von Erwachsenen. Mitgestalten dürfen sie den öffentlichen Raum auch nicht. Statt also Verkehrswege kindgerecht zu gestalten, erziehen wir Kinder so, dass sie sich autogerecht verhalten. Sie müssen die Ampel drücken, sie müssen warten, sie müssen aufpassen. Hauptsache, sie stehen den autofahrenden Erwachsenen nicht im Weg. Ich finde das wahnsinnig ungerecht – nicht nur gegenüber Kindern, sondern gegenüber allen, die kein Auto fahren: alleinerziehenden Müttern und Jugendliche, die sich ein Auto oder einen Führerschein meistens nicht leisten können. Menschen, denen das Autofahren in der Großstadt zu stressig ist; älteren Mitbürger:innen, die sich das Fahren nicht mehr zutrauen. Ich selbst habe pflegebedürftige Eltern im ländlichen Raum. Wenn ich die besuchen will, bin ich auf das Auto angewiesen. Dabei will ich das gar nicht.
Was nervt Sie denn am meisten am Status quo?
Katja Diehl: Das größte Problem sind die Autos, die fast nur rumstehen. Bis vor ein paar Jahrzehnten war das gar nicht erlaubt, dafür musste man schon für zahlen. Inzwischen aber ist das selbstverständlich. Das Auto ist in Deutschland einfach die Norm, alles wird ihm untergeordnet. Ich hoffe, mein Buch macht alle, die es lesen, offen für andere Gedanken: Ich brauche kein Auto. Ich habe das Recht, frei und sicher unterwegs zu sein – mit dem Fahrrad, mit Bus und Bahn, ganz egal. Und: Es ist nicht Naturgesetz, dass unsere Städte so aussehen wie sie aussehen. Wir können sie verändern. Der Mensch ist doch schließlich das einzige Lebewesen, das sich eine alternative Zukunft vorstellen kann. Für eine nachhaltigere und gerechtere Gesellschaft müssen wir aber vom Auto abrücken.

Für solche Ideen wurden Sie in der Vergangenheit oft angefeindet, Hasskommentare und
Morddrohungen inklusive. Ist das Kinderbuch auch eine Art strategischer Schachzug – nach
dem Motto: Bei Kindern geht’s leichter?
Katja Diehl: Schön wär’s. Das Buch war keine fünf Minuten auf dem Markt, da gab es schon die ersten vernichtenden User-Kritiken – ohne, dass jemand das komplette Buch hätte lesen können. Manche behaupten doch glatt, das Buch sei traumatisierend. Dabei schreibe ich doch einfach nur auf, was ist und was sein kann. Also ist nicht mein Buch traumatisierend – unsere Gegenwart ist es. Sobald es aber ums Auto geht, machen viele dicht. Ich habe manchmal das Gefühl, der Verlust des eigenen Autos wird bei denen genau tabuisiert wie der eigene Tod. Ich glaube aber auch, dass man nicht als Arschloch auf die Welt kommt, sondern das System einem zum Arschloch macht. Und hoffentlich bekommen diese Leute einen anderen Zugang zu dem Thema, weil sie sich eher mit ihren Kindern, Enkel:innen oder Nichten und Neffen identifizieren als mit der Meinung irgendeiner Mobilitätsaktivistin.
Was sagen denn die kleinen Leser:innen zu Ihrem Buch?
Katja Diehl: Ein Mädchen mit dem Namen Matilda, vier Jahre alt, hat mir geschrieben, dass sie Bürgermeisterin werden will – weil wir Großen unsere Probleme ja anscheinend nicht gelöst bekommen. Ein Junge hatte die Idee für einen Ampelknopf für Autofahrer, damit sie auch mal drücken müssen, wenn die eine Straße entlangfahren wollen. Und mit dem Zusammenhang zwischen Treibhausgasen und Klimawandel verstehen auch schon die Kleinsten. Wir sollten unseren Kindern also mehr zutrauen: Sie gehen mit einem völlig anderen Blick durch die Welt als wir Erwachsenen, machen wichtige Beobachtungen, stellen die richtigen Fragen.
Im Buch geht es auch um Flächengerechtigkeit, Tauschwirtschaft und dezentrale
Energieversorgung. Ist das nicht doch etwas überkomplex?
Katja Diehl: Nein. Es hängt doch schließlich alles irgendwie zusammen. Mobilität ist nur der Einstieg. Am Ende geht es aber um Lebensqualität. Weniger Autos bedeuten mehr Grün, bessere Luft und mehr Raum für Begegnung. Dass uns das gesünder und glücklicher macht, ist längst wissenschaftlich bewiesen. Aber die Leute fahren oder fliegen lieber weiterhin an weit entfernte Orte, um sich dort von ihrer stressigen Umgebung erholen. Das ist doch absurd! Man stelle sich mal vor: Wir entfernen das ganze Blech von unseren Straßen und machen Urlaub vor der Haustür…

Manche würden dazu Utopie sagen. Wie viel Realität steckt denn in Ihrem Buch?
Katja Diehl: Wenn man es ganz nüchtern betrachtet: null Utopie. Alles, was im Buch abgebildet ist, gibt es bereits. Bereits in den 1920er-Jahren haben Architektinnen Community-Häuser geplant, in denen gemeinsam gekocht wurde, man gegenseitig die Kinder betreut oder sich Bohrer oder Leitern geliehen hat. Eine funktionale Nachbarschaft, ohne Besitz und mit weniger Konsum. Diese Welt liegt nicht in ferner Zukunft, sondern nur wenige Schritte entfernt. Und dass andere Arten der Fortbewegung und ein besserer ÖPNV nicht möglich sind, ist eine Lüge. Die eigentliche Utopie des Buches besteht also darin, dass die Menschen wirklich wollen, dass es allen anderen auch gut geht und dass sie sich für die Bedürfnisse derjenigen einsetzen, die nicht in den Räumen der Macht sitzen.
Ihre Hauptfigur heißt Hope, wie die Hoffnung. Blicken Sie genauso positiv auf eine
gerechtere Mobilität?
Katja Diehl: Sonst hätte ich das Buch nicht geschrieben. Es gibt wahnsinnig viele Leute, die diese Veränderung unterstützen, aber auch ziemlich erschöpft sind, weil sie noch in der Minderheit sind und das System noch gegen sie arbeitet. Denen wollte ich ein Signal senden: Haltet durch! Gerade ist so viel in Bewegung. Es gibt zum Beispiel die Initiative der sogenannten C-40-Städte, die unter anderem so geplant sind, dass sie auch das Sichtfeld aus 90 Zentimetern Körpergröße berücksichtigen. Jede Kreuzung, jede Hecke, jede Parkbucht wird daraufhin überprüft, ob ein Kind auch alles sehen kann.
Das Buch endet mit einer Anekdote aus dem echten Leben: In Ihrer Nachbarschaft in
Eimsbüttel verhindert seit einiger Zeit ein Spielzeug-Set das Falschparken…
Katja Diehl: Das hat mich tatsächlich sehr berührt. Autos werden ja immer schwerer – und schaden auch dem letzten bisschen Natur, das in unseren Städten noch geblieben ist. Sie verdichten das Erdreich und machen das Wurzelwerk von Bäumen kaputt. Dabei brauchen wir doch gerade in Städten die Bäume zur Abkühlung, vor allem im Sommer. Seitdem an diesem einen Baum aber ein Playmobil-Liegestuhl, ein Zaun aus Lego und dieser kleine Briefkasten mit dem Namen „Fee“ steht, parken die Autos immer mit ein paar Zentimetern Abstand mehr. Der Baum ist den Fahrer:innen egal. Aber das Spielzeug von Kindern wollen sie dann nicht kaputtmachen. Vielleicht braucht es mehr von dieser verspielten, kindlichen Perspektive, um etwas zu bewegen.

Katja Diehl, 52, studierte Literaturwissenschaften, Medien und Soziologie, arbeitete später für die Deutschen Bundesstiftung Umwelt und die NordWestBahn und setzt sich seit 2017 als selbstständige Beraterin für die Verkehrswende ein, unter anderem mit ihrem Podcast „She drives Mobility“ oder Büchern wie „Autokorrektur“. 2022 wurde Diehl gleich zweimal mit dem Deutschen Mobilitätspreis ausgezeichnet. Ihr neues Buch „Komm mit in die Welt von morgen“ (EMF Verlag, 16 Euro) hat sie zusammen mit der Illustratorin Emily Claire Völker realisiert.