Interview: Erik Klügling
Monsieur Potart, auf Ihrem Instagram-Kanal „I Don’t Give A Seat“ präsentieren Sie seit 2015 Bezüge von Bus- und Bahnsitzen aus aller Welt. Wie sind Sie auf die Idee dazu gekommen?
Julien Potart: Ich bin in einem Vorort von Paris aufgewachsen, als Teenager jeden Tag mit dem Zug in die Stadt gefahren. Dort saß ich dann auf diesen alten, orangefarbenen Kunstledersitzen, die manchmal komplett zerrissen oder mit Graffiti beschmiert waren. Auf der zwei Stunden langen Fahrt hatte ich viel Zeit, um mir die Details anzuschauen und mich zu fragen, was schon alles auf diesen Sitzen passiert ist. Als ich dann später beruflich viel unterwegs war, fiel mir irgendwann auf, dass jeder Ort ein ganz eigenes Muster auf seinen Sitzen und Bänken hat. Leider übersehen viele Menschen diese Details oder interessieren sich einen Dreck dafür. They don’t give a shit, würde man im Englischen sagen. Diese Redewendung habe ich für meinen Instagram-Kanal abgewandelt. Hier bekommen die Sitzmuster hoffentlich die Anerkennung, die ihnen gebührt.
Was fasziniert Sie denn besonders an den Sitzmustern?
Julien Potart: Die manchmal wilden Muster und oft vielen Farben haben einen ganz pragmatischen Ursprung. Damit lassen sich Flecken und Abnutzung nämlich super verbergen. Ich finde aber toll, welcher Wiedererkennungswert und welche Emotionen mit den Designs einhergeht. Farben können auch die Stimmung beeinflussen: Rot kann die Menschen anregen, während Farben wie Blau, Grün und Violett eher beruhigen. In Wellington in Neuseeland hat man mit dem Blättermuster auf den Sitzen einen Hauch von Natur in die Stadt gebracht. Und manchmal erzählen die Muster auch viel über den jeweiligen Ort. In Warschau hat man sogar die Sehenswürdigkeiten der Stadt in den Polstern verewigt. Das macht sie wirklich einzigartig!


Ihr Kanal zählt inzwischen fast 800 Posts, jeder mit einem anderen Motiv. Wie kommen Sie an die vielen Fotos?
Julien Potart: Angefangen habe ich mit den Fundstücken, die ich auf meinen eigenen Reisen gesammelt habe. Irgendwann fingen aber auch meine Familie und Freunde an, mir Bilder zu schicken. Inzwischen kommen die Sitzbilder von Menschen aus der ganzen Welt und machen den Großteil meines Contents aus. Jeden Tag bekomme ich eine Nachricht mit einem neuen Motiv.
Das hört sich alles sehr nerdig an. Gibt es dafür denn überhaupt eine Zielgruppe?
Julien Potart: Mein Kanal hat inzwischen rund 145.000 Follower:innen. Und Sie glauben gar nicht, wie viele Leute mir schreiben, die Städte und Länder allein deshalb besuchen, um die Sitze mit eigenen Augen zu sehen und selbst auf ihnen Platz nehmen können. Ich glaube also schon, dass ich mit der Idee einen gewissen Nerv treffe. Sitze in Bus und Bahn sind Teil der Identität einer Stadt, eine Art kultureller Fingerabdruck. Und Kunst muss schließlich nicht immer im Museum hängen, oder?
Welche Unterschiede gibt es international bei den Designs?
Julien Potart: Ich finde, dass die Muster in Europa, insbesondere in Frankreich, eher zurückhaltend, funktional und abstrakt sind. Im asiatischen Raum sind die Bezüge sehr viel lebhafter und farbenfroher, fast schon psychedelisch. In Ao Nang in Thailand gibt es zum Beispiel ein Muster mit niedlichen Pandas darauf. In Neuseeland dagegen sieht man viele Designs, die von der Kunst der Ureinwohner inspiriert sind. Es gibt aber nicht den einen Look für die eine Kultur. In Kyoto zum Beispiel sind kleine Symbole für Schwangere, Senior:innen oder Menschen mit Beeinträchtigung in den Stoff eingewebt. So sieht man auf einen Blick, für wen diese Plätze reserviert sind. Das ist schön und praktisch zugleich.


Haben Sie Favoriten in Ihrer Sammlung?
Julien Potart: Schwer zu sagen! Ich liebe viele Muster sehr. Auf Island wünschen einem die Polster in allen möglichen Sprachen eine gute Reise, wie sympathisch. In Istanbul sitzt man auf roten und gelben Zacken und Wirbeln, die aussehen wie eine Explosion in einem Cartoon. Und in einem Bus in Bad Tölz zeigen die Sitze, wie könnte es anders sein, Busse, Autos und Wohnwagen. Wenn ich mich aber für ein Muster entscheiden müsste, würde ich Tokio nehmen. Dort gibt es einen Zug, der zum Flughafen fährt und auf dessen Sitzen Passagierjets abgebildet sind. Das entfacht jedes Mal mein Reisefieber.



Und der geschmackloseste Sitz, den Sie gesehen oder auf dem Sie gesessen haben?
Julien Potart: Für mich gibt es keine hässlichen Sitze. Ich kann in jedem Muster etwas Schönes entdecken. Manche Designs sind ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig, klar. Aber selbst Muster, die komplett wild sind und wo die Farben nur so knallen, haben ihren Charme. Wenn die Sonne scheint und das Licht während der Fahrt über sie hinwegstreicht, entfalten diese Muster eine wunderschöne hypnotische Wirkung.

Wenn Sie einen eigenen Sitz entwerfen könnten, wie würde der aussehen?
Julien Potart: Das hängt natürlich sehr vom Verkehrsmittel und vom Land ab. Und beim Sitzen geht es ja nicht nur ums Aussehen. Ich habe mir aber schon oft Sitze aus umweltfreundlichen Materialien gewünscht, die sich selbst reinigen und für mehr Komfort an die individuelle Körperform anpassen. Eine intelligente Heizung und Kühlung wären auch toll – und eine Funktion, die einen ans Austeigen an der Haltestelle erinnert. Wenn sich die Farben dann noch an die Lichtstimmung anpassen, wie ein Chamäleon, wäre das genial.
Julien Potart, 44, hat als Regisseur Filme für Arte, Canal+ oder France TV gedreht. Heute lebt er zwei Stunden von Paris entfernt und widmet sich mit seinem eigenen Studio Bureau Synthetique Kreativprojekten, bei denen er die Realität mit Humor und sozialkritischem Blick einfangen kann. Für seinen Instagram-Kanal „I Don’t Give A Seat“ ist er ständig auf der Suche nach neuen Motiven – insbesondere aus bisher unterrepräsentierten Regionen wie Afrika und Südamerika. Wer einen Sitzbezug entdeckt, darf gerne ein Foto davon an idontgiveaseat@gmail.com senden.


