Text: Carsten Hänche
Fotos: Dominik Schleuter
Wer ist eigentlich auf den Gedanken gekommen, Steckdosen im Zug unerreichbar für jedes Ladekabel mitten auf der Wand zu installieren? Glaubt wirklich jemand, dass Neonlicht gemütlich ist? Was macht der Klappsitz direkt vor der Toilettentür? Warum lässt der Abfallbehälter keinen Platz für die Knie? Lange Zeit waren die Fahrgasträume das Stiefkind des Nahverkehrs. Dass es heute für Designfaulheit keine Ausreden mehr gibt, hat ein exaktes Anfangsdatum: der 7. November 2017.
Es war ein Wendepunkt, ein radikaler Neubeginn, als die Südostbayernbahn, die Bayerische Eisenbahngesellschaft und DB Regio in Nürnberg den ersten „Ideenzug“ vorstellten. Was das lebensgroße Mock-up eines Doppelstockzugs zeigte, war alles – außer gewöhnlich. Lounge, Bistrobänke, Relaxbereich, Komfortsitze, Einzelkabinen, sogar Schlummerkojen und ein Sportabteil mit Trainingsfahrrad: Das Mock-up enthielt alles, wovon Pendlerinnen und Pendler träumen. Denn die hatte man vorher gefragt und gebeten, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Und genau darin, nämlich die Sicht der Fahrgäste einzunehmen und sie in den Mittelpunkt zu stellen, bestand der Paradigmenwechsel.

Julian Fordon ist Projektmanager des Teams, das diesen und die Ideenzüge, die noch folgen sollten, ans Licht der Welt gebracht hat. „Natürlich wussten wir, dass es Schlafkojen und Sportabteile in wirklichen Nahverkehrszügen nicht geben wird. Trotzdem haben wir auch die skurrilen Vorschläge umgesetzt. Weil die Menschen, die wir befragt hatten, sie sich gewünscht haben. Und weil es dem Projekt Aufmerksamkeit beschert hat.“ Die Schlagzeilen folgten prompt, auch Social Media quoll über. Und nach anfänglichem Kopfschütteln über vermeintliche Phantastereien gewann immer mehr die Erkenntnis die Oberhand, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht. Um ein Mindset, das die Fahrgäste nicht als Beförderungsfälle sieht, sondern als Kundinnen und Kunden ernst nimmt. Um einen selbstbewussten ÖPNV, der hip und trendy ist. Um Züge, in die man gerne einsteigt.
Insgesamt drei Ideenzüge hat das Team entwickelt – als „Schaufenster und Impulsgeber für die Aufgabenträger und die ganze Branche“, erläutert Philipp Kühn, Leiter Marketingstrategie und -kommunikation bei DB Regio. Auf den IdeenzugRegio folgte im Jahr 2021 das Mock-up IdeenzugCity (2021), 2025 dann die Weiterentwicklung IdeenzugUrban, beide gedacht für S-Bahn-Metropolenverkehr. Und auch diese brachen radikal mit Konventionen. Beleuchtung und Displays, Innenlayout, Zonierung, Orientierung und Fahrgastinformation, Farben, Formen und Materialien: „Wir haben alles von Grund auf neu durchdacht“, sagt Fordon. Die Ausstattung für die Fahrgäste war dabei nicht der einzige Aspekt. Gerade in den Metropolregionen werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Fahrgastzahlen deutlich steigen. Dafür braucht es flexibel nutzbare Innenräume. Fordon: „Es ging uns immer um beides: mehr Kapazitäten in unseren Zügen zu schaffen und zugleich ein einzigartiges Kundenerlebnis zu bieten.“



Was die beiden Mock-ups für den Metropolenverkehr besonders auszeichnet, ist ein neues Layout und Raumgefühl, das beim Betreten sofort spürbar und durch Licht und Farbe unterstützt wird. Damit sich die Fahrgäste beim Ein- und Aussteigen nicht im Weg stehen, lenkt der Eingangsbereich den Schritt ins Innere. Eine Gepäckablage in Kopfhöhe, die auf kurzen S-Bahnfahrten sowieso niemand nutzt, gibt es nicht mehr, dafür aber definierte Gepäckbereiche zwischen und neben den Sitzen. Das schafft Licht und Luft. Auf Knopfdruck drehen sich Sitze zur Seite oder klappen ein. So entsteht Platz, wenn Platz gebraucht wird. Wer nur wenige Stationen mitfährt und gar nicht sitzen will, findet komfortable Anlehnstützen. Auch die Wagenübergänge sind kein toter Raum, sondern einladende Aufenthaltsbereiche. Und als kommunikativer Hot-Spot im Zug dient eine spacige Lounge.

Hinzu kommen unzählige innovative Details. Etwa das tages- und verkehrszeitabhängige Ambient Light. Das Monitorband. Die integrierten Displays in den Fensterscheiben sowie neuartige Displays an der Decke und über den Türen. Die LED-Matrix am Boden, die die Fahrgäste zu freien Sitz- und Stehplätzen leitet. Oder das Kamerasystem, das freie Plätze im Zug ebenso erkennt wie Hindernisse auf den Gängen und mögliche Gefahrensituationen. Bei den schlagzeilenträchtigen Extras ging das Team nicht ganz so weit wie beim IdeenzugRegio. Aber es gibt sie auch – etwa die Ladestation für E-Scooter und den in der Deckenverkleidung versteckten Staubsaugerroboter, der mit ausfahrbarem Rüssel die schnelle Schmutzbeseitigung zwischendurch besorgt.

Bei Messen und Veranstaltungen haben die Ideenzüge Zehntausende Besucherinnen und Besucher erreicht. Wie viele es genau waren, weiß auch Fordons Kollege Lars Pinnecker nicht, der die meisten Interessierten durch die Mock-ups geführt hat. „Wir haben im Team mal grob hochgerechnet, es ist auf jeden Fall eine Zahl im unteren fünfstelligen Bereich.“ Pinnecker empfindet es als ein Privileg, dass er nicht nur mitplanen und bauen, sondern auch unmittelbar erfahren durfte, „wie die Menschen das finden, was wir uns ausgedacht hatten.“
Für das Publikum seien die Führungen eine Entdeckungsreise gewesen – mitmachen und austesten erlaubt. Nicht nur Sitze und Sitzlandschaften, Displays und Taster, sondern auch, wie die Lichtstimmung das Ambiente und die Atmosphäre in einem Zug verändert. „Ein Lichtlabor wie unseres hat es für den Schienenverkehr wohl noch nie gegeben“, vermutet Pinnecker. Am meisten begeistert habe die Menschen aber nicht eine bestimmte Lösung, sondern das Zusammenspiel all der cleveren Details, die das Reiseerlebnis verbessern und zugleich die Kapazität optimal ausnutzen.


Von Anfang an wollte das Projekt Ideenzug nicht nur Kreativlabor sein, sondern den Sprung in die Wirklichkeit schaffen. Das ist gelungen. Die besten Vorschläge des IdeenzugRegio wurden gemeinsam mit der Bayerischen Eisenbahngesellschaft in einem umgebauten Fahrzeug für die Südostbayernbahn verwirklicht. Es ist heute auf der Strecke Mühldorf–München unterwegs. Zehn Wagen auf der Taunusstrecke Frankfurt a. M.–Limburg wurden ebenfalls mit Komponenten des IdeenzugRegio bestückt. An der Philosophie des IdeenzugCity orientieren sich Redesign-Programme wie das für die S-Bahn Rheinland. Und die neuen S-Bahnzüge für München, die gerade gebaut werden, tragen ganz unverkennbar die Handschrift der Ideenzug-Designer. Darüber freut sich Julian Fordon besonders. „Die neuen Züge für die S-Bahn München sind in der Innenraumgestaltung die ersten Vertreter einer völlig neuen Generation.“
Packt ihn die Wehmut, wenn das Projekt nun zu Ende geht? „Schon“, sagt Fordon. „Vor allem, weil wir ein tolles Team waren und in jedem Detail unheimlich viel Mühe und Herzblut steckt.“ Andererseits: „mission accomplished“, das Ziel ist erreicht. Lars Pinnecker ergänzt: „Wir schließen das Kapitel Ideenzug in dem Wissen, dass wir einen großen und bleibenden Einfluss ausgeübt haben.“ Denn die Kreativität zieht Kreise: Mit Unterstützung der Designagentur neomind hat das Projekt rund 50 Industriepartner eingebunden und miteinander vernetzt.
Das bleibt und wirkt nach, genauso wie die Erkenntnis, dass es sich lohnt, Dinge völlig neu zu denken. Und eigentlich, so Fordon, habe die Zukunft des Ideenzugs ja gerade erst begonnen. „Wir werden noch viele neue Fahrzeuggenerationen sehen, in denen Ideenzug drinsteckt, auch wenn es nicht draufsteht.“ Er freut sich darauf. „Wenn ich künftig in einem mitfahre, kann ich sagen: Das waren unsere Impulse, unser Team. Da steckt auch ein Teil von mir drin.“



