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Starke Stimmen für das Recht auf Mobilität

Millionen Menschen sind auf den Pkw angewiesen, weil Bus und Bahn keine Alternative darstellen. Mindeststandards für das ÖPNV-Angebot könnten das ändern.

Auch das beste Tarifangebot läuft ins Leere, wenn das Verkehrsangebot spärlich ist. Im Windschatten des Deutschland-Tickets hat deshalb die Diskussion um Mindest-Bedienstandards im ÖPNV Fahrt aufgenommen. Denn die Angebotsqualität im deutschen ÖPNV lässt für Millionen Menschen zu wünschen übrig. Allianz pro Schiene hat dazu im Sommer Zahlen geliefert. Als akzeptables Angebot definierte das gemeinnützige Verkehrsbündnis mindesten 20 Abfahrten am Tag an einer Bushaltestelle in einem Umkreis von 600 Metern oder an einem Eisenbahnhaltepunkt im Umkreis von 1.200 Metern. Für mindestens 90 Prozent der Menschen traf dies nur in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sowie in den Flächenländern Saarland, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen zu. Neun von sechzehn Bundesländern verfehlten diesen Standard,  am deutlichsten Bayern und Mecklenburg-Vorpommern.  

Dirk Flege, Geschäftsführer Allianz pro Schiene, zieht daraus den Schluss: „Auch Menschen auf dem Land müssen ohne eigenen Pkw mobil sein können. Wir brauchen ein Recht auf Mobilität ohne Auto, eine Mobilitätsgarantie.“ Damit ist Flege nicht allein. Bereits im vergangenen Jahr machte sich der Verkehrsclub Deutschland (VCD) für eine Mobilitätsgarantie stark. Jetzt legte auch Agora Verkehrswende nach und veröffentlichte eine Analyse zur Ausgangslage und mit Praxisbeispielen für eine bundesweit garantierte Grundversorgung mit Bus und Bahn. Danach ist für 27 Millionen Menschen in Deutschland die ÖPNV-Anbindung schlecht, weil die erreichbaren Haltestellen nur sporadisch und häufig sogar nur im Schulbusverkehr bedient werden.  

Baden-Württemberg geht voran 
In der Politik ist die Forderung nach einer ÖPNV-Mobilitätsgarantie durchaus angekommen. Am weitesten voraus ist Baden-Württemberg, wo die Mobilitätsgarantie als zentrales Instrument der ÖPNV- und Klimapolitik gilt. „Mit der Mobilitätsgarantie als verlässliches Angebot im öffentlichen Verkehr von fünf bis 24 Uhr wollen wir sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum den ÖPNV als attraktives Angebot aufwerten und damit einen deutlichen Anreiz zum Umstieg vom Auto auf Bus und Bahn setzen“, sagt Landesverkehrsminister Winfried Hermann. Im Ballungsraum soll die Taktfrequenz bei mindestens 15 Minuten liegen, im ländlichen Raum bei mindestens 30 Minuten. In einer ersten Stufe will das Land diesen Standard bis 2026 in der Hauptverkehrszeit umsetzen.  

So konkret ist man Niedersachsen und Schleswig-Holstein zwar noch nicht. Aber das Thema ist Teil der dortigen Koalitionsvereinbarungen und steht damit auf der politischen Agenda. Das gilt auch für den Bund. Zwar ist von einer Garantie im Koalitionsvertrag der Bundesregierung nicht die Rede, der Weg dahin aber vorgezeichnet: „Gemeinsam werden wir Qualitätskriterien und Standards für Angebote und Erreichbarkeit für urbane und ländliche Räume definieren.“  

Bund und Länder sollen Standards setzen 
Für den VCD, der ein deutschlandweit einheitliches Qualitätsniveau fordert, liegt der Ball ohnehin beim Bund. Doch der gibt im Regionalisierungsgesetz bislang nur eine „ausreichende Bedienung“ vor und überlässt alles Weitere den von den Ländern eingesetzten Aufgabenträgern für den Nahverkehr auf der Schiene und der Straße. Eine systematische Ableitung von Standards finde dort jedoch nicht statt und habe in der planerischen Praxis kaum eine Bedeutung, bemängelt Agora Verkehrswende. Dass dabei der finanzielle Aspekt eine Rolle spielt, liegt auf der Hand. Schließlich wäre ein flächendeckend akzeptabler ÖPNV nicht zum Nulltarif zu haben. „Hier sind die Kommunen, Landkreise, Bundesländer, aber auch der Bund gleichermaßen gefordert“, sagt Geschäftsführer Dirk Flege und verweist darauf, dass die Regierungsparteien im Bund bereits im Koalitionsvertrag eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel angekündigt haben.  

Wie die Kriterien einer Mobilitätsgarantie aussehen und wie sie operationalisiert werden könnten, dafür hat Agora Verkehrswende Beispiele auch aus Österreich und der Schweiz zusammengetragen. Im Hinblick auf die Angebote für die Fahrgäste hebt die Berliner Denkfabrik On-Demand-Verkehre und Linienverkehre mit Markencharakter wie den „PlusBus“ hervor. Agora drängt auf Tempo und begründet das auch mit der sozialen Dimension der Mobilität. „Am Ende geht es darum, dem Gefühl des Abgehängtseins ganz praktisch etwas entgegenzusetzen. Dort, wo Sparkassen, Bäckereien und Apotheken schließen, werden die Wege länger. Jeder zehnte Haushalt in ländlichen Räumen besitzt kein eigenes Auto“, erläutert die stellvertretende Agora Verkehrswende-Direktorin Wiebke Zimmer. Für Menschen mit geringem Einkommen, die auf das Auto nicht verzichten können, werde diese Abhängigkeit angesichts der hohen Kosten auch zum finanziellen Problem. „Sie sparen an anderen notwendigen Dingen in ihrem Alltag. Die Forschung nennt das Mobilitätsarmut.“ 

Agora Verkehrswende will seinem Papier zur Mobilitätsgarantie einen zweiten Teil folgen lassen. Teil 1 ist hier verfügbar: https://www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/mobilitaetsgarantie-fuer-deutschland-teil-i/ 

Das Erreichbarkeitsranking der Allianz pro Schiene gibt es hier: https://www.allianz-pro-schiene.de/themen/dossiers/erreichbarkeitsranking/ 


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