RegioSignaleBlog: Sie haben die Brancheninitiative Fahrrad und Bahnen mit aufgezogen, ein größeres Publikum kennt Sie aber als Initiator von Volksentscheid Fahrrad, der Radentscheid-Kampagne in Berlin. Hat der Erfolg der Kampagne sie damals überrascht?
Heinrich Strößenreuther: Ich kämpfe heute noch manchmal mit Tränen der Rührung, wenn ich bei Vorträgen die 105.425 Unterschriften erwähne, die wir innerhalb von drei Wochen in Berlin gesammelt haben. Als damals das Ergebnis ausgezählt wurde, war ich erstmal völlig baff und sprachlos. Dann dämmerte mir langsam, dass von diesem magischen Moment ein Impuls, ein Signal in die ganze Republik hinausgehen würde. Tatsächlich folgten dann quer durch Deutschland über 50 weitere Radentscheide …
RegioSignaleBlog: … die mächtig vom Rückenwind aus Berlin profitierten. Was geht dem Radfahrer Heinrich Strößenreuther eigentlich mehr auf die Nerven: Gegenwind oder Berge?
Heinrich Strößenreuther: Tatsächlich Berge. Aber das hängt auch damit zusammen, dass ich in einem friesischen Dorf aufgewachsen bin. Wind war da ein täglicher Begleiter, und manchmal ging es dann eben auch mal bei Gegenwind und Windstärke acht mit dem Rad zur Schule.
RegioSignaleBlog: Sie streiten, werben und arbeiten schon seit Jahrzehnten für klimafreundliche Mobilität, Bahn und das Fahrrad. Was ist Ihr persönlicher Eindruck: Hat das Rad schon mehr Strecke gut gemacht, als gedacht – oder liegt es immer noch weiter zurück als erhofft.
Heinrich Strößenreuther: Da antworte ich mal mit einem beherzten sowohl als auch. Wenn ich sehe, in wie vielen Städten das Thema Radverkehr jetzt auf der politischen Agenda steht, wie es die kommunalen Spitzenverbände bewegte, dann hat es richtig Fahrt aufgenommen und wir sind wirklich weitergekommen. Schaue ich mir an, wie weit wir seit dem Radentscheid hier in Berlin gekommen sind, bin ich nicht so happy. Da wäre mehr drin gewesen. Das gilt sicher auch für die deutsche Automobilindustrie und ihren eher zögerlichen Aufbruch in die Elektromobilität. Mittlerweile hat sich zwar herumgesprochen, dass die Anschaffungskosten von Elektrofahrzeugen sinken und die Betriebskosten um den Faktor 10 niedriger sind. Aber ob die deutsche Automobilindustrie den Vorsprung der chinesischen Wettbewerber tatsächlich noch gut machen kann, werden wir wohl erst in zehn Jahren sehen.
RegioSignaleBlog: Es ist aber vermutlich nicht die Sorge um Deutschlands Automobilindustrie, die Sie dazu veranlasst hat, gemeinsam mit zwei Co-Autoren das Buch „Verkehrspolitik ohne Autohass“ zu verfassen.
Heinrich Strößenreuther: Uns sorgt, dass sich die Boulevardmedien sofort auf die Hinterbeine stellen, wenn Politiker, egal welcher Partei, auch nur den Anschein erwecken, dass sie Autofahrern Platz wegnehmen möchten. Deshalb wollen wir Beispiele zeigen, die Politikern helfen, eine mutigere Haltung gegenüber den Dingen einzunehmen, von denen sie eh wissen, dass man sie nicht umschiffen kann. Wir nennen Interessengegensätze beim Namen, schreiben Klartext, beziehen Position, verzichten aber auf Schwarz-Weiß-Malerei. Stattdessen nähern wir uns der Gemengelage und den Befindlichkeiten mit Empathie und schreiben in einer Tonalität, die konservativeren bürgerlichen Milieus und besonders den Autofahrern vertraut ist. Außerdem zeigen wir, dass selbst scheinbar eindeutig gegen den Autoverkehr gerichtete Maßnahmen zwei Seiten haben. Ein gutes Beispiel dafür ist der Bau von guten Radwegen, der ja auch dafür sorgt, dass Autofahrer aufs Rad umsteigen – und die Verbliebenen weniger Stau- und Parkplatzsorgen haben.
RegioSignaleBlog: Sind wir als Gesellschaft nicht sowieso schon viel weiter als es die polarisierte Debatte nahe legt?
Heinrich Strößenreuther: Es sind oft nur kleine Minderheiten, die laut schreien, bei einer vernünftigen schweigenden Mehrheit. Deshalb werben wir für eine Verkehrspolitik für Bus und Bahn, für Rad und Sharing, die nicht nur in Metropolen wie Berlin mit alle den Bike-, Car-, Scooter- und sonstigen Sharing-Anbietern dieser Welt funktioniert. Denn in Wanne-Eickel oder Coburg, in Jever oder Grevesmühlen ist es eben etwas anders. Das ist auch Realität, und mit ihr müssen wir genauso umgehen wie mit den ländlichen Gegenden, wo das öffentliche Mobilitätsangebot meistens sehr zu wünschen übrig lässt. Trotzdem gibt es auch dort viele gute Argumente für eine Verkehrswende …
RegioSignaleBlog: … die aber wahrscheinlich selten Gehör finden, weil das private Auto vielerorts zwingende Voraussetzung für Mobilität auf dem Land ist.
Heinrich Strößenreuther: Deshalb stellen wir uns der Aufgabe, mit den Autofahrern in einen ehrlichen Dialog zu kommen und für Positionen zu werben, die auch für Landrat Ralf passen. Die Überpopulation an Autos ist schließlich auch die Ursache dafür, dass sich die Autofahrer so oft gegenseitig in die Quere kommen, im Stau stehen und sich das Leben untereinander zur Hölle machen. Wenn sie dann noch zu hören bekommen, dass sie ihr Auto stehen lassen und besser mal Fahrrad fahren sollten, wird es halt schnell ungemütlich. Aber genau darum geht es: Wir müssen der Mehrheit der Autofahren die vielen notwendigen Verkehrsreformen verkaufen – eben moderne Verkehrspolitik zwischen Klimakrise und Lebensqualität.
RegioSignaleBlog: Verraten Sie mir noch schnell, wie das funktioniert?
Heinrich Strößenreuther: Klar, zum Beispiel hier in der ersten Leseprobe https://clevere-staedte.de/leseprobe_verkehrsbuch oder aber bei ZUKUNFT NAHVERKEHR. In meinem Beitrag „Autofahrern und Politikern die Verkehrswende verkaufen“ für wird es genau darum gehen.