RegioSignaleBlog: Herr Professor Grotemeier, Sie haben auf der polisMOBILITY gemeinsam mit Ihren Mitstreiter:innen ein Manifest für einen agilen ÖPNV präsentiert und werden es auch bei der ZUKUNFT NAHVERKEHR am 6. September in Berlin zur Diskussion stellen. Worum geht es?
Christian Grotemeier: Wir haben in unserem Manifest in sechs Thesen beschrieben, unter welchen Rahmenbedingungen und mit welchen Zielen die Branche einen wettbewerbsfähigen ÖPNV entwickeln könnte. Eine chancenorientierte und kundenzentrierte Denkweise ist dabei von zentraler Bedeutung.
RegioSignaleBlog: Warum ist Agilität dafür so wichtig?
Christian Grotemeier: Wir haben im ÖPNV sehr viele Player – die Politik, unterschiedliche Aufgabenträger für SPNV und ÖPNV, die Verkehrsunternehmen und die Verkehrsverbünde. Sie alle arbeiten zwar an einem Produkt, haben aber oft verschiedene Ziele im Blick. Das geht nicht nur zu Lasten einer gemeinsamen Fokussierung. Die Branche bremst sich dadurch auch vielfach selbst aus. Mehr Agilität bedeutet mehr Fokussierung auf den Kunden, eine größere Bereitschaft, auch mal Risiken zu übernehmen und unternehmerischer zu handeln. In der Summe würde Agilität den ÖPNV also schneller dazu befähigen, ein noch wichtigerer Teil der Verkehrswende zu werden. Das ist auch dringend nötig. Denn in dem Tempo, mit dem wir momentan im ÖPNV arbeiten, werden wir die ambitionierten Klimaziele und die Ziele im Schienenverkehr nicht erreichen.
RegioSignaleBlog: Agilität ist ein Kind der Softwarebranche. Ließen sich Methode und Prinzip überhaupt in die ÖPNV-Branche zu übertragen?
Christian Grotemeier: Agilität ist aber auch eine Frage des Mindsets und eines gemeinsamen Kundenverständnisses. Die Branche hat sich darauf eingestellt, nicht in Monaten oder Quartalen, sondern in Jahren zu rechnen. Ob Nahverkehrspläne, Fahrpläne oder Tarifänderungen – alles scheint immer eine Frage von Jahren zu sein. Für das Wachstum, das wir brauchen, damit der ÖPNV den gewünschten großen Beitrag zur Verkehrswende leisten kann, ist das zu langsam. Deshalb sollte sich der ÖPNV dazu befähigen, schneller weiterzukommen. Kürzere Abstimmungszyklen, eine größere Risikobereitschaft, der Wille, auch dann in die Umsetzung zu gehen, wenn das letzte Detail noch nicht geklärt ist – das alles sind Aspekte, die ich mit Agilität verbinden würde, für die sich die Branche aber erst einmal auf einen gemeinsamen Nenner verständigen müsste.
RegioSignaleBlog: Das Problem scheint zumindest nicht unbekannt zu sein. In Debatten um die Zukunft des ÖPNV heißt es oft: Konzepte und Ideen haben wir genug, jetzt müssen wir in die Umsetzung kommen.
Christian Grotemeier: In der ÖPNV-Branche ist man oft versucht, es allen hundertprozentig recht zu machen, vor allem den Stakeholdern im Hintergrund. Die Folge ist eine gewisse Scheu, einfach mal die Initiative zu ergreifen und mutig voran zugehen. Dabei würde es enorm helfen, sich angesichts der Dringlichkeit der Verkehrswende darauf zu verständig, die ein oder anderen Bedenken bei Seite zu legen und dafür agiler und schneller zu werden. Plakativ ausgerückt geht es darum, vom risikofreien ÖPNV, der eher die politischen und verwaltungstechnischen Bedenken seiner Stakeholder im Blick hat, in einen ÖPNV umzusteigen, der sich vor allem um die Interessen seiner Kunden kümmert. Wenn das der neue Standard würde, müsste auch keiner mehr Angst haben, etwas falsch zu machen. „Umparken im Kopf“ hat Marketing-Chefin Tina Müller das mal bei Opel genannt. Das Manifest, das wir auf der polisMOBILITY vorgestellt haben, könnte dafür eine Orientierungsgrundlage bieten.
RegioSignaleBlog: Bisher geht es in der ÖPNV-Debatte vor allem um Tarife, Fahrzeuge und Infrastruktur. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist aber auch ein völlig neue Unternehmenskultur nötig, um die notwendige Dynamik für die Verkehrswende zu erzeugen.
Christian Grotemeier: Auf jeden Fall! Junge Menschen wünschen sich Entscheidungsspielräume. Wer Initiative und Engagement mitbringt, möchte verändern und nicht verwalten. Da sind Führungskräfte gefragt, die ihre Mitarbeitenden ermutigen und sich hinter sie stellen, gerade wenn es mal nicht funktioniert. Uns erreicht Feedback von jungen Talenten im ÖPNV, dass es an dieser Kultur an einigen Stellen noch hapert. Das sehen wir sehr kritisch, da wir genau diese Menschen benötigen, um den ÖPNV zu verändern und zu vergrößern.
RegioSignaleBlog: Wir sprechen hier zwar zu zweit über das Manifest. Aber hinter den Thesen steht ein ganzes Quintett. Woher kommen Ihre Mitstreiter:innen?
Christian Grotemeier: Aus den unterschiedlichsten Bereichen. Die Kolleg:innen kommen von einem Verkehrsunternehmen, einem SPNV-Aufgabenträger, einem Verkehrsverbund und einem sehr eisenbahn-affinen IT-Dienstleister. Das macht es für uns alle auch so interessant. Wir haben es als Personen mit viel Branchenerfahrung verfasst und möchten es auch so verstanden wissen.
RegioSignaleBlog: Das Thema ÖPNV und Agilität poppt ja seit einigen Jahren immer mal wieder auf. Bisher hat aber scheinbar der Impuls gefehlt, um einen Veränderungsprozess in Gang zu setzen. Kommt er jetzt?
Christian Grotemeier: Die Chancen waren jedenfalls noch nie so groß wie jetzt. Das Deutschlandticket hat etwas geschaffen, das in der Psychologie kollektive Selbstwirksamkeit genannt wird. Die Beschäftigten in der Branche haben Marketingmaßnahmen erarbeitet, Vertriebsaktionen durchgeführt, rund um das Ticket herum sind zahllose originelle Ideen entstanden und alle möglichen Apps entwickelt worden. In der Summe haben die Menschen unglaublich viel bewegt. Wenn es gelingt, diesen Drive und das neu entstandene Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten in einen Veränderungsprozess zu überführen, sehe ich schon eine Chance dafür.
RegioSignaleBlog: Nehmen wir mal an, es gelänge. Stünden dann auch die in den 1990er Jahren etablierten wettbewerbspolitischen Leitplanken zur Disposition? Das Manifest lässt ja kein gutes Haar an ihnen.
Christian Grotemeier: So weit würde ich nicht gehen wollen. Aber wir sagen, dass Wettbewerb kein Selbstzweck ist und regelmäßig geprüft werden sollte, ob die Kosten für die Sicherstellung eines „Wettbewerbs um den Markt“ in einem wirtschaftlichen Verhältnis zu dem erwarteten Nutzen aus Effizienz und Innovation stehen. Tatsache ist, dass der ÖPNV derzeit sehr viele Ressourcen für juristische und verwaltungstechnische Prozesse bindet. Gleichzeitig bremsen langwierige Ausschreibungs- und Genehmigungsverfahren kurzfristiges Engagement aus. Die Frage ist also, ob dieser Wettbewerb überhaupt richtig funktioniert oder man irgendwo falsch abgebogen ist. Schließlich geht es nicht darum, den „ordnungspolitisch korrektesten“ Wettbewerb im Eisenbahnbereich zu organisieren, sondern im Wettbewerb mit dem Individualverkehr viel besser abzuschneiden. Deshalb würde sich das Autor:innen-Team sehr freuen, wenn unser Manifest letztlich einen Beitrag dazu leisten könnte, dass uns das gelingt.