RegioSignaleBlog: Herr Rhein, wie oft haben Sie in Ihrer Karriere gehört, dass ein Designentwurf zu utopisch ist und gar nicht geht?
Detlef Rhein: Das passiert andauernd. Das Interessante ist aber: Wenn man mal gemeinsam hinguckt und besser versteht, was in den Vorschlägen eingebaut ist, dann wird auch klar, dass es eigentlich nicht um eine Utopie geht, sondern um eine dringend erforderliche Qualität.
RegioSignaleBlog: Was Ihrem Anliegen als Designer ja entgegenkommt. Sie möchten Transformationsprozesse anstoßen und die Wende zu nachhaltigeren Lebensstilen unterstützen.
Detlef Rhein: Das braucht es unbedingt. Wir stehen vor großen Herausforderungen, aber Transformationen wie die Verkehrswende nehmen nicht die Fahrt auf, die sie aufnehmen sollten. Ein maßgeblicher Punkt dabei ist, dass es an Attraktivität fehlt, auf die man zeigen, die man sehen kann – schau‘ mal, dieser schicke Bus ist unser Bus, diese futuristische Fähre ist unsere Fähre. Design kann solche Geschichten erzählen und die Bilder dazu anbieten. Sie kann einen Zustand zeigen, von dem die Leute sagen: So etwas wäre wirklich toll!
RegioSignaleBlog: Der Entwurf „Abacus“ ist auf jeden Fall einer, bei dem man sich erst einmal die Augen reibt. Abacus kann man sich als selbstfahrendes Hop-on/Hop-off-System auf Schienen vorstellen. Die Fahrzeuge erinnern an riesige, offene Bilderrahmen, die mit den Fahrgästen in geringer Geschwindigkeit, KI-gestützt und autonom durch die Landschaft rollen. In Bewegung setzen sie sich durch Gesten der Fahrgäste. Allerdings: Das widerspricht so ziemlich allem, was heute rechtlich und betrieblich im ÖPNV denkbar ist …
Detlef Rhein: Aber an vielen Dingen wie an der KI und an autonomen Systemen wird längst geforscht und entwickelt. Und wir müssen uns ja darauf verständigen, welche Qualität Mobilität bekommen kann und soll. Oft ist es auch gar nicht die Technologie, die zu kompliziert ist, es sind die Regularien und Vorschriften. Bei Abacus reden wir von einem absolut kontrollierbaren Setting. Technisch geht es im Grunde um ein schienengebundenes System, das in Schrittgeschwindigkeit fährt und Hindernisse erkennt.
RegioSignaleBlog: Unter der Überschrift „_Walk the Line_“ hat die Kunsthochschule Muthesius insgesamt acht Vorschlägen zu den Herausforderungen der Mobilitätswende im ländlichen Raum vorgestellt. Abacus ist einer davon, bei manchen geht es allerdings weniger um Mobilität als um die Vitalisierung ländlicher Strukturen. Wie steht beides im Zusammenhang?
Detlef Rhein: Ganz direkt. _Walk the Line_ ist im Rahmen des Projekts Nachhaltige Mobilitätstransformation entstanden und wurde von der der Gesellschaft für Energie & Klimaschutz Schleswig-Holstein gefördert. Dafür haben wir uns zunächst die Mobilität in Kiel angeschaut und sind dann aufs Land gegangen. Die Mobilitätswende findet dort allerdings praktisch nicht statt, es gibt kein attraktives Angebot. Und es mangelt auch an anderen Stellen an der Daseinsvorsorge, schon bei den Einkaufsmöglichkeiten. Wir haben alle diese Dinge im Zusammenhang betrachtet sind dabei auf interessante Aspekte gestoßen. Zum Beispiel organisieren sich Familien überall ähnlich, fahren mit dem Auto die gleichen Wege, bilden aber keine Fahrgemeinschaften. Das Design der Wohngebiete lädt auch nicht dazu, sich zu koordinieren und mehr miteinander zu machen.
RegioSignaleBlog: Alle Vorschläge gehen auf Problemlagen ein, die das Projektteam in Dörfern und Städten in Schleswig-Holstein vorgefunden hat. Einige der Lösungen muten ähnlich visionär an wie Abacus – etwa gemeinschaftliche Gärten und Wasserläufe in Wohnsiedlungen oder Sharing-Elektroautos mit austauschbaren Fahrgastzellen je nach den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer. Wie haben die Leute reagiert, als ihnen die Lösungen vorgestellt wurden?
Detlef Rhein: Das waren total gute Erfahrungen. Die Menschen sind unheimlich offen für Angebote und Vorschläge. Und was auf den ersten Blick utopisch daherkommt, ist auf den zweiten völlig lebenspraktisch. Den Nutzen von Sharing-Autos mit Modulaufbau für unterschiedliche Zwecke hat jeder sofort erkannt, der ab und zu etwas transportieren muss – und das kommt auf dem Land ständig vor. Ein Sharing-Auto, das sich in einen Pritschenwagen verwandeln lässt, ist da einfach praktisch.
RegioSignaleBlog: 2019 hat ein Projektteam unter Ihrer Betreuung ein futuristisches Designkonzept für eine autonome Fähre über die Kieler Förde vorgestellt. Daraus ist das CAPTN-Netzwerk für nachhaltige und autonome Mobilität zu Wasser und zu Land geworden. Haben Sie damals damit gerechnet?
Detlef Rhein: Das Design hat sehr viel freigesetzt. Die Hochschulen kooperieren miteinander, es sind unheimlich viele Unternehmen und Institutionen dabei, wir sind in einen beispielhaften Beschleunigungsprozess gekommen. Für Kiel und Schleswig-Holstein hat das einen großen Impact. CAPTN arbeitet an einer Lead-Technologie, an einem weltweiten Benchmark. Gerade wurde in der Förde der Versuchsträger für autonome Schifffahrt zu Wasser gelassen, im Herbst stellen wir ein Design-Update vor. Darin sind neue Erkenntnisse eingearbeitet, aber es geht auch darum, sichtbar zu bleiben und mit Bildern zu kommunizieren, welche Dynamik das Projekt hat.
RegioSignaleBlog: Also hat auch Abacus Chancen?
Detlef Rhein: Das Interessante an Abacus ist ja, dass so positiv darauf reagiert wird. Das zeigt: Schienengebundene Mobilität ist attraktiv. Aber auf dem Land wurden Strecken stillgelegt und viele Städte haben die Straßenbahnschienen rausgerissen und bereuen das jetzt. Abacus knüpft daran an, ist aber eine neue Mobilitätsform in einem ganz eigenen, niederschwelligen Bereich. Technologisch ist das machbar und Abacus versteht sich auch nicht als Utopie, sondern als Einladung zum Experimentieren. Ideen einfach auszuprobieren und zu sehen, wie die Menschen damit umgehen, muss auch zur Verkehrswende gehören.