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„Die Verkehrsemissionen kosten uns Milliarden“

Forscher Mojib Latif spricht sich seit vielen Jahren für eine Mobilitätswende aus – und benennt auch als Gast in unserem Podcast „Ticket to Anywhere“ klar, wo Politik und Gesellschaft mehr leisten müssen. Im Zusatzinterview spricht er über die Kosten des Klimawandels, das Ende des Individualverkehrs und Bilder, die Lust auf Veränderung machen

Interview: Laslo Seyda

Herr Latif, Sie beschäftigen sich seit mehr als 40 Jahren mit dem Klimawandel und seinen Ursachen. Welche Rolle spielt der Verkehr beim Klimaschutz?

Mojib Latif: Eine gewaltige Rolle. In Deutschland verursacht der Verkehr rund 22 Prozent der Treibhausgase. 60 Prozent davon entfallen auf den Pkw-Verkehr. Wir reden also nicht gerade von Peanuts. Bedauerlicherweise ist der Verkehrssektor der einzige Bereich der Gesellschaft, der seine Emissionen seit 1990 praktisch nicht gesenkt hat. Und im Nah- und Fernverkehr, die eine guten Ausgleich bieten würden, wurden viele Verbindungen zurückgebaut. In Sachen Klimaschutz steckt das Verkehrswesen aktuell also ziemlich fest. Auch in anderen Ländern passiert zu wenig in Sachen Klimaschutz. Und die Folgen sind unübersehbar: Rekordhitze, Überflutungen, Waldbrände, auch hier bei uns. Trotzdem tut sich nichts.

Woran liegt das?

Mojib Latif: Menschen haben in der Regel große Angst vor Veränderung. Und wir Deutsche haben das Glück, in einem reichen Land zu leben. Daran soll sich bloß nichts ändern. Deshalb wird weitergemacht wie bisher, der Wirtschaft alles andere untergeordnet – auch der Klimaschutz. Und kaum einem fällt auf, dass darunter langfristig auch die Wirtschaft leidet. Wenn der Rhein nämlich wegen Dürre nur Niedrigwasser hat oder Straßen und Bahnstrecken wegen Starkregen und Stürmen blockiert sind, reißen Lieferketten. Dass das Unsummen kostet, haben wir Schwarz auf Weiß: Auch im neueste Global Risks Report des World Economic Forums stehen Klimarisiken ganz oben. Und ganz nebenbei werden wir im internationalen Wettbewerb abgehängt, wenn wir nicht auf klimaschonende Technologien umschwenken. Nehmen wir zum Beispiel die Zurückhaltung in Sachen Elektromobilität: Wo wollen wir denn unsere vielen Verbrenner, die wir so fleißig weiterproduzieren, in Zukunft noch verkaufen? In China, unserem bislang größten Absatzmarkt, will die keiner mehr haben. Und es werden ja immer mehr Länder, die sich in diese Richtung entwickeln! Aber wir hängen immer noch am Tropf der fossilen Industrie, ruhen uns auf unserem wackeligen Wohlstand aus. Das ist kollektive Verdrängung.

2024 wurden die Sektorziele im deutschen Klimaschutzgesetz gestrichen. Der Energiesektor kann so zum Beispiel nicht erreichte Klimaziele im Verkehrssektor ausgleichen. Viele halten das für eine gute Idee… 

Mojib Latif: Das war ein Fehler. Wer glaubt denn ernsthaft, dass ein anderer Sektor so viel mehr Treibhausgase einspart? Außerdem nimmt man den Druck zum Handeln vom Verkehrssektor. Ab 2027 wird der europäische Emissionshandel unter anderem um den Ausstoß in den Sektoren Gebäude und Verkehr erweitert. Dann können die verfehlten Ziele des Verkehrssektors nicht mehr mit anderen Maßnahmen gegengerechnet werden – und es drohen Strafzahlungen an die EU in Milliardenhöhe. Völlig absurd! Dieses Geld könnte man doch viel besser in eine gute Infrastruktur für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr oder den Ausbau der E-Mobilität stecken.

Welche Maßnahmen in Sachen Mobilitätswende würden Sie denn ergreifen?

Mojib Latif: Ich würde sofort die klimaschädlichen Subventionen streichen. Es kann doch nicht angehen, dass es Vergünstigungen für Dienstwagen gibt und keine Abgaben auf Flugbenzin, dafür aber eine Mehrwertsteuer auf Bahntickets! Und natürlich muss der ÖPNV weiter ausgebaut werden. Klar, der ÖPNV hat Schwächen. Am Ende ist das Angebot aber viel entspannter, praktischer und günstiger als ein Auto. Aus Klimaschutzgründen hätte ich mir natürlich gewünscht, dass der Preis für das Deutschland-Ticket bei neun Euro bleibt.

Seit das Deutschland-Ticket 58 Euro statt 49 Euro kostet, sollen fast eine halbe Million Nutzer:innen abgesprungen sein, sagt eine im Juli bekannt gewordene Prognose der Deutschen Bahn und des Verbands Deutschen Verkehrsunternehmen…

Mojib Latif: Ein echter Verlust! Wenn durch die Preiserhöhung so viele Interessierte aussteigen – das ist doch genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen. Wenn man es wirklich ernst meint mit dem Klimaschutz, wenn der Begriff nicht zum Reizwort werden soll, muss man auch ohne großen Aufwand und dicken Geldbeutel klimafreundlich unterwegs sein können. Klimaschutz muss sozial verträglich gestaltet werden. Mobilität und Klimaschutz dürfen keine Luxusgüter sein!

Wie sieht denn Ihre Vision von der Mobilität der Zukunft aus?

Mojib Latif: Straßen ohne Individualverkehr – und damit meine ich auch private Elektroautos. Die verbrauchen einfach zu viele Ressourcen und denselben Platz wie Verbrenner. Mobilität muss zur Dienstleistung werden – mit autonomen Fahrzeugen, die auf Abruf herbeirollen, Fahrgemeinschaften, Sharing-Angeboten und vielen Bussen, Bahnen und Fahrrädern drumherum. Die Technologien, die für die Fahrzeuge und ihre Vernetzung untereinander nötig sind, entwickeln sich schnell, die Forschung ist da auf einem guten Weg. Natürlich wird es auch mal Rückschläge geben, wie bei jeder Technologie. Aber am Ende setzt sich Innovation immer durch. Um dahin zu kommen, brauchen wir abseits der Technik aber auch dringend ein positives Narrativ für die Transformation.

Wie meinen Sie das?

Mojib Latif: Wenn ich eines gelernt habe in meinen vielen Jahren als Klimaforscher: Mit Zahlen und Statistiken erreichen wir nur wenige. Damit viele Menschen mitziehen, müssen sie die Mobilitätswende sehen, erleben, fühlen. Deshalb muss die Wissenschaft auch ihre Kommunikation ändern. Wir haben zum Beispiel einmal eine Show im Hamburger Planetarium veranstaltet, bei der wir die Stadt der Zukunft in die Kuppel projiziert haben – eine Stadt ohne Autos, dafür mit viel Grün, Platz und guter Luft. Da wurde vielen Anwesenden klar, dass das kein Verzicht ist, sondern ein Gewinn.

Glauben Sie, dass wir es so vielleicht doch noch schaffen mit der Klimaneutralität bis 2045?

Mojib Latif: Ganz ehrlich? Nein. Dazu bin ich zu sehr Realist. Das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, haben wir schließlich schon gerissen. Und bei der aktuellen politischen Lage werden wir auch die zwei Grad reißen. Trotzdem, jedes Zehntelgrad zählt, das wir vermeiden können. Wir benötigen systemische Veränderungen, bei Energie, Wärme und Verkehr. Bezogen auf den Verkehr bedeutet das vor allem:  Ausbau der E-Mobilität und des Öffentlichen Verkehrs. Aber wie sagt man so schön: Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.

Mojib Latif, 70, ist Diplom-Meteorologe und promovierter Ozeanograph. Als Wissenschaftler am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und Professor an der Universität Kiel und Präsident der Deutschen Gesellschaft Club of Rome warnt Latif eindringlich vor den Folgen der Erderwärmung – und findet, es fehle in Deutschland der Mut für eine echte Verkehrswende. Privat ist er schon vor einigen Jahren vom Verbrenner aufs E-Auto umgestiegen. In sein Büro in der Akademie der Wissenschaften in Hamburg fährt er aber lieber mit dem Bus der Linie 5. Die Fahrt von seinem Zuhause in Eppendorf sei so viel schneller und bequemer, so der Forscher. Alle Infos zu „Ticket to Anywhere“ und die Links zur Folge mit Mojib Latif findet Ihr hier.

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