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„Es geht um den Raum, in dem wir leben“

In Jan Kamenskys visuellen Utopien lösen sich Autos in Luft auf und mutieren Asphaltwüsten zu urbanen Parks. Er ist überzeugt: Utopie schärft den Blick auf die Gegenwart.

RegioSignaleBlog: Herr Kamensky, ich liege wahrscheinlich nicht falsch mit der Vermutung, dass Ihnen in den Städten einiges nicht passt, oder? 

Jan Kamensky: In der Tat. Der automobile Individualverkehr nimmt unglaublich viel Raum ein, und das Auto prägt und dominiert eigentlich das gesamte urbane Leben. Diese Erkenntnis hat viel mit mir gemacht, weil mir dadurch klar wurde, welchen Wert wir dem Raum geben oder besser: nicht geben. Also ich spreche jetzt nicht vom Wert der Einnahmen durch Parkgebühren oder dem Wert von Straßenzügen und den Immobilien, die dort stehen. Sondern ich spreche vom Wert unserer Lebensgrundlagen. Es geht um sehr viel mehr als den Raum, der von Autos in Beschlag genommen wird. Es geht um den Raum, in dem und von dem wir leben. Aber das wird meiner Meinung gar nicht mehr wahrgenommen, weil wir dafür blind geworden sind. 

RegioSignaleBlog: Sind Ihre visuellen Utopien der Versuch, diese andere Wirklichkeit wieder sichtbar zu machen und der Blindheit neue Perspektiven entgegenzusetzen. 

Jan Kamensky: Ich nenne meine Arbeit Visual Utopias, weil ich mit ihr eine Reise in eine Welt unternehme, die es so nicht gibt, die erdacht und fiktiv ist. Deshalb muss diese Welt aber nicht zwangsläufig in ferner Zukunft liegen. Die Utopien, die ich darstelle, sind zwar auch Zukunftsentwürfe, aber nicht hauptsächlich. Sie rücken stattdessen Kontraste in den Fokus, die fern von der Wirklichkeit sind, die uns alltäglich umgibt – und schärfen so den Blick auf die Gegenwart. Es ist eine Kritik, die bestehende Sehgewohnheiten durchrüttelt und so den nötigen Abstand schafft, um zu erkennen, was wir hier eigentlich tun, und den Raum, in dem wir leben, wieder besser wertschätzen zu können. 


RegioSignaleBlog: Spiegelt sich dieser Kontrast auch in Ihrer Bildersprache wider? Sie visualisieren die Gegenwart fast schon hyperrealistisch, in den utopischen Szenen schimmern hingegen Anleihen an die naiven Malerei durch. 

Jan Kamensky: Das, was ich in meiner Utopie zeige, hat eine symbolhafte Bedeutung. Bäume stehen für bessere Luftqualität, Schatten und eine gesunde Flora. Die tanzenden Schilder, die in den Himmel aufsteigen und große Freiflächen entstehen lassen, zeigen, wieviel Raum von der Verkehrsinfrastruktur in Beschlag genommen wird. In den Kommentaren heißt es dann zwar manchmal, das sei eine fantastische heile Welt wie bei Pippi Langstrumpf oder in Bullerbü. Ehrlich gesagt finde ich das gar nicht schlecht. Natürlich kann man das nicht eins zu eins umsetzen. Aber der Kontrast zu dem, was wir mit den Straßen und die Straßen mit uns machen, wird dadurch um so deutlicher. Das gleiche gilt für Motive und Farben. Wenn aus Asphalt Wiese und aus Grau Grün wird, wenn ich Bäume wachsen und Vögel umherfliegen lasse, machen diese farbenfrohen Kontraste auch klar, was wir verlieren, wenn wir unsere Städte asphaltieren und unsere Straßen versiegeln. 

RegioSignaleBlog: In Stuttgart haben Sie den Rosenbergplatz befreit. Dort löst ein Mülleimer die Revolte gegen den Autoverkehr aus, indem er einen geparkten Roller mit einem Tritt in den Orbit schickt. Am Ende muss aber auch er dran glauben und verabschiedet sich ebenfalls gen Himmel. Ist das nicht ein bisschen ungerecht? 

Jan Kamensky: Naja, ganz zum Schluss der Animation kehrt er ja als moderner Mülleimer in die Utopie zurück. Dort hängt er dann niedrig genug, um auch von Kindern oder Menschen im Rollstuhl benutzt werden zu können. Ich möchte nicht naiv oder unrealistisch sein. Ganz im Gegenteil. Mir geht es in den Utopien auch darum, Lebenssituationen und Perspektiven von Menschen sichtbar zu machen, die wir oft nicht im Blick haben. Deshalb verschwinden auch die Bordsteinkanten oder werden zumindest abgesenkt … 

RegioSignaleBlog: … oder die Kanaldeckel husten und erinnern daran, wie schlecht die Luft bei starker Verkehrsbelastung in Bodennähe und damit auf Höhe von Kindern im Kinderwagen ist. Deshalb war mir der Mülleimer, der in Stuttgart einem hustenden Kanaldeckel zu Hilfe kommt, so sympathisch. 

Jan Kamensky: Das freut mich. Der Kanaldeckel hat etwas Rebellisches, auch etwas Solidarisches. Die Szene ist humorvoll, gleichzeitig spielerisch und wird hoffentlich auch als freundlich empfunden. Ich zeige auch bewusst keine Menschen in den Autos, obwohl sie in der Realität natürlich darinsitzen. Aber mir geht es nicht darum, die Menschen in den Autos zu kritisieren. Ich möchte zeigen, dass es einen Unterschied macht, in welcher Form wir uns fortbewegen und was es bedeutet, dem Auto so viel Raum zu geben. Deshalb wird das Auto kritisiert, aber nicht der Mensch, der darinsitzt. Dem möchte ich eher die Hand reichen und sagen: „Schau mal, wir gehen das gemeinsam an. Lass uns unseren Verstand bemühen und gemeinsam als Gesellschaft die Städte der Zukunft vernünftig gestalten.“ 

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