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Hessen macht sich autonom

Der Hype um fahrerlose Autos ist gewaltig. Fakt ist aber auch: Roboterfahrzeuge machen der Verkehr nicht smarter und die Blechlawine auf den Straßen nicht kleiner. Eine Lösung für das Problem: autonome On-Demand-Shuttles, die im ÖPNV-Angebot integriert sind. In Hessen in der Testbetrieb in vollem Gange

Text: Frank Sträter

Der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) und DB Regio Straße treiben diesen
Innovationsprozess mit dem Projekt KIRA vor den Toren Frankfurts entscheidend voran: KIRA
steht für KI-basierter Regelbetrieb autonomer On-Demand-Verkehre, die den ÖPNV flexibler und
das Mobilitätsangebot attraktiver machen. „Davon profitieren vor allem ländliche Regionen. Wenn
fahrerlose, flexibel buchbare Kleinbusse 24/7 da unterwegs sind, wo heute Linienbusse nur eine
Handvoll Mal am Tag fahren, dann wird ÖPNV für alle verfügbar und deutlich attraktiver“, bringt
RMV-Chef Knut Ringat die Vorteile auf den Punkt.

Den eingesetzten Shuttles fehlt zwar noch die Typgenehmigung des Kraftfahrt-Bundesamtes,
weshalb ohne Sicherheitsfahrer aus rechtlichen Gründen aktuell mal rein gar nichts geht. Aber
die selbstfahrenden Fünfsitzer kommen auf Zuruf, werden smart gepoolt und bringen erstmals in
Deutschland autonomen öffentlichen Personennahverkehr mit Level 4 auf die Straße. Das
Automatisierungslevel bedeutet, dass sich die Fahrzeuge innerhalb eines definierten
Bediengebiets im laufenden Straßenverkehr mit bis zu 130 Stundenkilometern fahrerlos
fortbewegen können.

Inzwischen haben die sechs On-Demand-Shuttles im Bediengebiet Langen und Egelsbach mehr
als 60.000 Kilometer zurückgelegt und seit dem Start des Projekts im Juni über 1.000
Testnutzer:innen befördert. Seit kurzem sind die elektrisch angetriebenen SUV von Nio auch in
Darmstadt unterwegs, um dort weiter entfernte Stadtteile an das Stadtzentrum und den
Hauptbahnhof anzubinden. Gebucht werden die Fahrten per App.

Sicherheitsfahrer kalibrieren System und Sensorik

Beim Pressetermin geht es aber auch ohne App. Für meinen ersten Trip in die autonome Zukunft
muss ich nur noch mit zwei Kolleg:innen einsteigen. Im Fond grüßt das Display für die
Passagiere mit bunter Grafik, der Sicherheitsfahrer startet den Motor und schon geht’s los.
Allerdings nicht autonom, sondern ganz fahrschulmäßig mit beiden Händen am Lenkrad. Schuld
ist die Baustelle, die wir gerade passieren. „Im Rahmen der Erprobungsgenehmigung sind wir
verpflichtet, hier den autonomen Modus zu deaktivieren“, erklärt der Assistenzfahrer.

Währenddessen blinkt das Display über der Mittelkonsole aufgeregt vor sich hin: Fahrzeuge mit
Vorrang flackern in Rot, geparkte Fahrzeuge erscheinen in unterschiedlichen Farben, nicht
relevante Hindernisse in schlichtem Grau. Kaum sind wir an der Baustelle vorbei, übernehmen
Sensoren und Kameras der Tech-Schmiede Mobileye zusammen mit der IT Steuer, Bremse und
Gaspedal. Mit Automatisierungsstufe Level 4 geht’s weiter Richtung Bahnhof.

Ein ruppiges Bremsmanöver samt Ausweichschlenker zeigt, dass die Elektronik bei der Sache
ist. Warum sie eingegriffen hat, bleibt hingegen offen. War es das mit dunklem Teer geflickte
Schlagloch? Oder die Dehnungsfuge der Brücke? Keiner weiß es, aber genau dafür sind
Sicherheitsfahrer:innen auch an Bord: Sie melden solche Vorfälle, schildern den Ablauf und
unterstützen die Kolleg:innen von der IT bei der Datenauswertung und Ursachenforschung.

„Jede Fahrt wird als Session aufgezeichnet, dann werden die generierten Daten zu einem
Datenpaket verarbeitet. So können wir jederzeit auswerten, wie eine Fahrt verlaufen ist“, erklärt
unser Assistenzfahrer. Schnelle Rechner sind dabei definitiv von Vorteil: Jede Fahrtstunde
generiert eine Datenmenge von 1,5 Terabyte, die mit bis zu 10 Gbit pro Sekunde in die Cloud
geladen und dort für Informationsverarbeitung und Systemverbesserung bereitgestellt werden.

„Wie ist das für Sie als Fahrer?“, fragt der Kollege von der örtlichen Presse, der fotografierend
neben mir sitzt und jetzt ein verwackeltes Bild mehr im Speicher hat. „Gibt es den Impuls
manchmal doch einzugreifen? Oder anders gefragt…“ „Ich darf nicht reden“, fällt ihm der
Sicherheitsfahrer freundlich, aber bestimmt ins Wort. Der Assistenzfahrer springt ein. „Sicherheitsfahrer müssen das Geschehen genauso beobachten, als hätten sie das Lenkrad in der Hand, sollen es aber nicht anfassen. Das auseinanderzuhalten, ist natürlich eine krasse Übung und ganz schön anstrengend. Deshalb machen wir auch möglichst kurze Schichten.“

Kurz vor dem Bahnhof wird klar, wofür die riesigen Datenmengen, die stetige
Systemverbesserung und die kurzen Schichten gut sind: Auf der engen Zufahrt zum Park&Ride
rollt der Nio ruckfrei aus, wartet das Ausparkmanöver eines anderen Verkehrsteilnehmers mit
rücksichtsvollem Abstand ab und setzt die Fahrt dann fort. Sicherheitsfahrer müssen in solchen
Situationen entweder antizipieren oder abwarten, wie sich das Fahrzeug verhält, um System und
Sensorik zu kalibrieren. Intervenieren sie zu früh, lernt das System nichts dazu.

Das ist selbst für ehemalige Testfahrer wie Mehran Karimi, der schon seit Oktober 2023 zum
KIRA-Team gehört, keine leichte Aufgabe: „Das Auto selbst fahren zu lassen und trotzdem
jederzeit wachsam zu sein, ist etwas Einzigartiges.“ Beworben hatte er sich bei KIRA, weil er die
Zukunft des autonomen Fahrens mitgestalten will. Anderthalb Jahre und einige Schulungen
später macht er das nicht nur als Fahrer, sondern auch als Ausbilder für Nachwuchskräfte. Den
dafür nötigen Trainerschein hat er dort erworben, wo er auch die Ausbildung zum
Sicherheitsfahrer absolviert hat und die Sensorik für die Fahrzeuge herkommt: bei Mobileye.

„Europa ist eher bereit, öffentliches Gut zu schützen“

Für seine Fahrgäste ist der Einstieg in den fahrerlosen ÖPNV deutlich einfacher. Sie müssen
nach der Registrierung nur die KIRA-Projekt-App herunterladen, Start und Ziel sowie das
gewünschte Fahrzeug auswählen – schon kann die Reise in die autonome Zukunft beginnen.
Mehran und seine Kolleg:innen werden allerdings noch eine Weile mitfahren: Im Test- und
Erprobungsbetrieb sind Sicherheitsfahrer:innen gesetzlich vorgeschrieben, und in freier Wildbahn
wird der fahrerlose Betrieb erst dann möglich sein, wenn alle gesetzlichen und technischen
Voraussetzungen erfüllt sind. Beim RMV geht man aktuell davon aus, dass es 2030ff so weit sein
wird.

Jeffrey TumIin, dem Ex-Chef der San Francisco Municipal Transportation Agency, fiele es
wahrscheinlich schwer, noch so lange auf autonome On-Demand-Verkehre zu warten. Schließlich
sind Robotaxis schon seit 2023 in San Francisco unterwegs. Er weiß aber auch, was es für eine
Stadt bedeutet, wenn Tech-Konzerne im Kampf um Marktanteile ihre Fahrzeugflotten in den
öffentlichen Raum kippen und „die Effizienz des öffentlichen Transportsystems gefährden, um
Privilegierten mehr Komfort zu verkaufen“. „Im Fernen Osten und Europa“, seufzt er in einem
Interview mit Bloomberg zwischen den Zeilen, sei die Politik „eher bereit, das öffentliche Gut
durch Regulierung zu schützen.“ Wer weiß – vielleicht wäre ihm ein autonomer, aber gleichzeitig
eben auch in den ÖPNV integrierter On-Demand-Verkehr ja doch die Wartezeit wert.

KIRA wird vom Bundesministerium für Verkehr (BMV) mit insgesamt rund 2,2 Millionen Euro
sowie vom Land Hessen finanziell unterstützt. Forschungspartner des Projekts sind das
Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), das Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

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