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„Klimawandel verschwindet nicht einfach so“

Dr. Jan Schilling, Vorstand Marketing DB Regio, ist überzeugt: „Wenn wir jetzt dranbleiben, werden sich die Rahmenbedingungen zugunsten der Verkehrswende verändern“

RegioSignaleBlog: Herr Schilling, Sie sind von einem Verband, dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), zum Unternehmen DB Regio gewechselt. Ein großer Sprung oder ein naheliegender Schritt? 

Jan Schilling: Es ist am Ende beides. Von einem Verband in ein Unternehmen und umgekehrt zu wechseln ist nicht komplett ungewöhnlich und ich halte einen solchen Austausch auch für sinnvoll. Aber ins unternehmerische Geschäft einzusteigen, bedeutet natürlich auch eine Herausforderung. Und die neue Aufgabe geht zudem einher mit der Verantwortung für ein neugeschaffenes Ressort – da hat man schon auch den notwendigen Respekt vor dieser Aufgabe. Andererseits lag ein Wechsel auch nahe. Denn die Zusammenarbeit mit der Branche und damit auch mit DB Regio war zuvor sehr intensiv. Als der Corona-Rettungsschirm verhandelt, das 9-Euro-Ticket und dann das Deutschland-Ticket auf den Weg gebracht wurden, habe ich – zumindest gefühlt – die Kolleginnen und Kollegen aus der Branche genauso häufig gesehen wie meine eigenen beim VDV. Zudem sind die Erfahrungen aus der Verbandsarbeit für meine Aufgabe bei DB Regio hilfreich und wertvoll. Schließlich müssen wir in unserer Branche übergreifend zusammenarbeiten und in dieser sehr volatilen, krisengeprägten Zeit die Marktbedingungen gemeinsam gestalten. Und natürlich geht es auch darum, die politischen Rationalitäten zu kennen, um eine starke Stimme für die Verkehrswende sein zu können.  

RegioSignaleBlog: Ihr Wechsel zu DB Regio ging einher mit einer veränderten Organisation. Bislang waren Schienenverkehr und Bus deutlich im Fokus. Nun sind der Buslinienverkehr sowie der On-Demand-Verkehr einschließlich der dafür nötigen digitalen Plattformen zusammengefasst und eine integrierte Betrachtung durch die Schaffung des Vorstandsressorts Marketing deutlich gestärkt worden. Warum? 

Jan Schilling: Wenn man Verkehrswende möchte und diese nicht über Zwang geschehen soll, brauchen die Leute Angebote und Optionen zum Umsteigen. Dazu muss man ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen. Keiner will von Bahnhof zu Bahnhof, die Leute wollen von zuhause zur Arbeit und zurück, zum Sport, zum Einkaufen. Das kann keine Mobilitätsform im ÖPNV allein leisten, die Schiene kann es allein nicht und die Straße allein auch nicht. Deshalb ist ein integrierter Ansatz der einzig sachgerechte Weg. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Der ÖPNV muss möglichst schnell wachsen, um seinen Beitrag zu den verkehrs- und klimapolitischen Zielen des Koalitionsvertrags bis 2030 zu leisten. Das wird schwierig, wenn man nur auf die Schiene achtet, wo es gerade auch um die Sanierung der Infrastruktur geht. Der integrierte Ansatz eröffnet einen Wachstumspfad, der auch unter Effizienz- und Klimaschutzgesichtspunkten Vorteile bietet. Vielleicht ist nicht jede Reaktivierung von Schienenstrecken sinnvoll, wenn am Ende mit sehr hohem Aufwand nur eine Handvoll Fahrgäste befördert werden. Vielleicht lässt sich mit einem gut gestaffelten System aus On-Demand-Verkehren, Bus- und Expressbuslinien für weniger Geld ein besseres Angebot verwirklichen. Ich glaube, die integrierte Betrachtung kann da ein echter Gamechanger sein.  

RegioSignaleBlog: Integrierte Verkehrskonzepte zielen auf nahtlose Reiseketten. Das betrifft ja auch die Vernetzung zwischen Straße und Schiene. Allerdings sind die Verantwortlichkeiten für die einzelnen Modi auf Bund, Länder und Kommunen verteilt. Ist das nicht ein Hemmschuh? 

Jan Schilling: Die staatlichen Strukturen in Deutschland verlaufen von unten nach oben, was ich richtig finde. Subsidiarität ist ein Wert an sich, weil damit die Aufgaben auf der Ebene erledigt werden, die am nächsten an der Sache ist. Das stärkt die demokratische Legitimität und ist eine Voraussetzung für gesellschaftlichen Konsens, den wir auch für die Verkehrswende brauchen. Schwierig wird es dann, wenn der eigene Kirchturm den Blick auf das große Ganze verstellt. Das Deutschland-Ticket zeigt ja, dass es auch anders geht. Sicher, bis es eingeführt wurde, hat es geknirscht, aber für die Kundinnen und Kunden ist die tarifliche Zersplitterung nun aufgehoben. Die Branche sollte diesen Impuls ernst nehmen, den Erfolg nicht zerreden und nicht in Kleinstaaterei zurückfallen. Einheitlichkeit und Einfachheit sind nach den Ergebnissen der Marktforschung genau das, was die Fahrgäste sich wünschen. Um bei den Fahrplanangeboten und Verkehrskonzepten genauso voranzukommen, liegt der Schlüssel nach meiner Ansicht in der integrierten, gebietsübergreifenden Planung und Zusammenarbeit. Das gibt es bereits, und wir sehen auch die ersten Vergaben integrierter Verkehrsleistungen mit On-Demand- und Linienverkehren. Das immer weiter voranzutreiben, bedeutet zwar, dicke Bretter zu bohren.  Aber der Gedanke findet in der Branche prinzipiell Anerkennung, weil sich ja auch die Fahrgäste nicht für Gebiets- und Zuständigkeitsgrenzen interessieren. Die Kunden erwarten von uns einfach, dass es funktioniert.  

 RegioSignaleBlog: Die Stimmungslage der Unternehmen und der Verbände des ÖPNV changiert in den letzten Monaten zwischen Aufbruch und Enttäuschung. Das Deutschland-Ticket signalisiert Aufbruch. Andererseits ist die Finanzierung nur für den Anfang und nicht dauerhaft gesichert. Und auch die Regionalisierungsmittel reichen bestenfalls für ein Verkehrsangebot auf dem bestehenden Niveau, aber nicht für mehr Verkehr. Ist für Sie das Glas halb voll oder halb leer?  

Jan Schilling: Ich bin ein optimistischer Mensch, für mich ist das Glas immer halb voll. Aber das ist auch inhaltlich begründet. Der Klimaschutz ist unbestritten die zentrale Frage unserer Zeit. Allerdings hat auch der Überfall auf die Ukraine die Gesellschaft durchgeschüttelt und die Politik musste sich erst einmal neu sortieren. Aber der Klimawandel verschwindet ja nicht einfach so, wenn wir uns die Augen zuhalten, und der ÖPNV ist ein entscheidender und anerkannter Teil der Lösung. Deshalb gab es den Rettungsschirm, der die Branche durch die Coronazeit gebracht hat, deshalb gab es das 9-Euro-Ticket und nicht nur einen Tankrabatt. Und der politische Wille ist weiterhin da. Die aktuellen Entscheidungen der Bundesregierung zur Infrastrukturfinanzierung im Schienenverkehr und gerade auch das Deutschland-Ticket zeigen das. Mit dem Deutschland-Ticket ist der Bund dauerhaft in eine Mischfinanzierung eingetreten und gibt viel Geld für Nachfrageanreize aus. Dass der Stapel an aktuellen Krisenbewältigungen die Verkehrswende vermeintlich ein Stück weit in den Hintergrund gerückt hat, bedeutet also nicht, dass an den Themen nicht weitergearbeitet wird. Was ich allerorten wahrnehme und wovon ich überzeugt bin: Wenn wir jetzt dranbleiben, wenn wir Verkehrswende wirklich wollen, dann werden sich die Rahmenbedingungen auch immer weiter zugunsten des ÖPNV verändern. Das kann und darf auch nicht am Geld scheitern. Wir sind ein reiches Land – so reich, dass wir uns sogar Unsummen klimaschädlicher Subventionen leisten. 

RegioSignaleBlog: Als Marketingvorstand sind Sie auch für die Branchenkommunikation zuständig, wobei im Zentrum der ÖPNV-Branche traditionell die Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger stehen. Wird das dem Thema New Mobility, um das es inzwischen geht, noch gerecht? New Mobility bezieht ja auch Unternehmen und Communities von der Stadtentwicklung und Mobilitätsforschung, über Sharing- und Micromobilität bis hin zum Design, zur KI und Digitalisierung mit ein. Brauchen wir einen anderen Branchenbegriff? 

Jan Schilling: Da bin ich mir nicht so sicher. Mit den Akteuren, die unsere Themen ebenfalls beschäftigen, gibt es viele Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch Unterschiede. Aber am Ende ist auch der Branchenbegriff nicht wirklich wichtig. Es geht darum, dass wir einen guten Austausch pflegen, uns vernetzen und den Diskurs weiten. Es geht um lebenswerte Städte, um Daseinsvorsorge, auch um volkswirtschaftlich positive Effekte des ÖPNV. Ich bin ein großer Freund davon, die damit zusammenhängenden Fragen miteinander zu diskutieren, statt übereinander zu reden. Unser gemeinsames Ziel muss eine nahtlose, an den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer orientierte Mobilität sein. Dafür sind alle Impulse sehr willkommen, aber wir müssen uns als ÖPNV auch nicht verstecken. Was heute „Shared Mobility“ heißt gibt es auch nicht erst, seitdem neue Anbieter auf den Markt kamen, sondern bei uns im ÖPNV schon immer.  

RegioSignaleBlog: Wenn Innovation und Vernetzung der Akteure die Mobilitätswende voranbringen – ist das auch der Grundgedanke der ZUKUNFT NAHVERKEHR, die DB Regio vom 4. bis 9. September in Berlin ausrichtet? 

Jan Schilling: Auf jeden Fall. Mobilität ist ein Grundbedürfnis, die Verkehrswende bedeutet gesellschaftliche Veränderung. Diesen Diskurs können wir nicht nur unter uns und in der Komfortzone eines Branchentreffs führen. ZUKUNFT NAHVERKEHR hat einen anderen Anspruch, einen breiten Scope, bezieht viele Themen und Akteure ein. Die Initiative betont das Gemeinsame. Es geht darum, den Prozess der Verkehrswende nach vorne zu bringen und auch ein Zeichen zu setzen. Deshalb findet ZUKUNFT NAHVERKEHR in Berlin statt – genau zu rechten Zeit und mitten im politischen Zentrum.  


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