RegioSignaleBlog: Ihr nennt Euch Fair Spaces und macht Euch für faire Räume stark. Können Räume überhaupt unfair sein?
Carolin Kruse: Natürlich gibt es unfaire Räume. Das sind Räume, die auf Grund ihrer infrastrukturellen Beschaffenheit oder der Art ihrer Nutzung nur bestimmten Personen oder eben auch Verkehrsteilnehmern vorbehalten sind.
RegioSignaleBlog: Räume sind oft im Wortsinn in Stein gegossen und lassen sich nur mit großem Aufwand verändern. Ihr setzt auf alternative Nutzungsformen. Funktioniert das?
Carolin Kruse: Auf jeden Fall. Selbst kleinere Maßnahme eröffnen Möglichkeiten. Der Verkehrsraum ist nur eines von vielen Beispielen. Ein weiteres sind Fußballfelder, die primär Männer ansprechen. Hier könnte man überlegen, inwiefern sich durch eine Umnutzung der Flächen eine gerechtere Verteilung zwischen den Geschlechtern erreichen ließe. Ein anderes Beispiel sind öffentliche Plätze, die man allein schon dadurch anders nutzbar machen kann, indem man dort Bänke aufstellt, um sie für Senior:innen attraktiver zu machen.
RegioSignaleBlog: Bei Eurer Arbeit habt Ihr aber eher den Verkehr als Fußballplätze oder Bänke im Blick.
Carolin Kruse: Wir haben vor allem die nachhaltige Mobilität und die dafür erforderlichen räumlichen Voraussetzungen im Blick. Diesen Raum definieren wir aber nicht nur als Raum für Verkehr, sondern auch als einen Raum für Partizipation und Diskussion, weil es eben um fairen Zugang zum öffentlichem Raum für die Mobilität und gerechtere Teilhabe geht. Denn nachhaltige und gerechtere Mobilität werden wir nur erreichen, wenn es gelingt, solche Räume zu schaffen. Das setzt allerdings den Austausch mit vielfältigen Personengruppen voraus, anstatt immer wieder mit den gleichen Personen zu sprechen.
RegioSignaleBlog: Ihr helft Kommunen bei der Realisierung nachhaltiger Mobilitätssysteme und entsprechender räumlicher Voraussetzungen. Wo drückt Städten und Gemeinden denn der Schuh besonders?
Carolin Kruse: Kommunen verfügen zwar über einen Wust von Daten, erkennen aber zunehmend, dass es nur selten die richtigen sind. Meistens fehlen ihnen qualitative Daten. Sie kennen zwar das Verkehrsaufkommen, wissen aber nicht, wohin die Menschen fahren, warum sie eine bestimmte Strecke oder ein bestimmtes Verkehrsmittel gewählt haben und ob sie sich anders entscheiden würden, wenn es Alternativen gäbe. Das Resultat ist eine Datenlücke, die in der Praxis vielfach durch fragwürdige Prämissen überbrückt wird, was wiederum wenig überzeugende Ergebnisse nach sich zieht. Deshalb helfen wir Kommunen dabei, mehr darüber zu erfahren, wie Menschen sich überhaupt bewegen. Solche Informationen sind für das Verständnis von Mobilität enorm wichtig.
RegioSignaleBlog: Wie macht ihr das konkret?
Carolin Kruse: Indem wir durch Interviews, Umfragen, Workshops und Spaziergänge versuchen, eine möglichst genaue Antwort darauf zu finden, wie Menschen sich bewegen. Um ein möglichst breites Spektrum an Informationen oder Sachverhalten erheben und verschiedene Perspektiven einnehmen zu können, holen wir dafür unterschiedlichste Personengruppen mit ins Boot. Wichtig ist, auch solche Gruppen zu berücksichtigen, die aufgrund ihrer persönlichen Voraussetzungen nur eingeschränkt mobil sind, Schüler:innen und Senior:innen beispielsweise. Das Ergebnis sind Datengrundlagen, die zu qualifizierten Bewertungskriterien führen. Geht es in die Umsetzung, geben diese Daten dann wichtige Hinweise darauf, wo die Neuverteilung von Verkehrsflächen besondere Priorität hat, wo es sich lohnt, harte Diskussionen zu führen oder wo sich Kompromisse anbieten. Am besten werden diese Personengruppen auch direkt mit in die Diskussion reingebracht.
RegioSignaleBlog: Ihr beratet Kommunen auch in speziellen Themenbereichen wie der Gestaltung von Kreuzungen. Warum macht ihr das und wie seid ihr dazu gekommen?
Carolin Kruse: An Kreuzungen gibt es die meisten Probleme, weil da viele und oft auch schwere Unfälle passieren. In Deutschland wird deshalb sehr heiß diskutiert, wie Kreuzungen gestaltet werden könnten, um Unfallrisiken zu reduzieren. Die Niederlande sind da schon ein Stück weiter. Dort sind viele Standards entwickelt worden, die Kreuzungen sicherer machen. Also haben wir gemeinsam mit unserem niederländischen Partner Goudappel einen Kurs entwickelt, um die niederländischen Konzepte vorzustellen.
RegioSignaleBlog: Sind Kreuzungen auch ein schwieriges Thema, weil Ampelschaltungen oft als sakrosankt gelten?
Carolin Kruse: Es mag ein gewisses Beharrungsvermögen geben. Hinzu kommt die recht weit verbreitete Angst, dass man den Fußverkehr nicht ausreichend mitdenkt – was aber nicht stimmt! – und deshalb nichts ändern sollte. Entscheidender ist aber sicherlich, dass aus einer Reihe von Gründen Jahre vergehen können, bis eine Änderung der Schaltung umgesetzt wird. Tatsächlich habe ich aber auch schon niederländische Kolleg:innen getroffen, die sich über die Ampelschaltungen hier in Deutschland sehr gewundert haben.
RegioSignaleBlog: In Sachen Radverkehr gelten die Niederlande oft als Referenz. Liegt das daran, dass die Verkehrsplaner:innen dort pfiffiger sind – oder ist es eher ein Frage der Kultur?
Carolin Kruse: In den Niederlanden gibt es auf jeden Fall eine ganz andere Planungs- und Mobilitätskultur. Man geht offener und pragmatischer mit Problemen und Lösungsansätzen um. Man probiert lieber mal was aus und bessert bei Bedarf nach, als jahrelang darüber nachzudenken, was alles schief gehen könnte, bevor man etwas umsetzt. Wenn ich hier in Deutschland mit niederländischen Kolleg:innen an gemeinsamen Projekten arbeite, sind die jedenfalls immer wieder erstaunt, wie lange hier alles dauert. Außerdem gibt es in den Niederlanden viel mehr Möglichkeiten, Ideen nicht nur einzubringen, sondern auch gehört zu werden.