Text: Malte Brenneisen
Fotos: Kevin McElvaney
Es war eine dieser Nächte, die schon wieder lang war, in denen der Kalender für die nächste Woche schon wieder voll und nur der Bildschirm strahlte. Als soloselbstständiger Vater von zwei Kindern und Halters eines Hundes ist mein Alltag ein akkurat getaktetes Uhrwerk aus Deadlines, Terminen und Verpflichtungen. Jede Reise hat normalerweise einen Zweck, einen Ort, an dem ich sein muss, pünktlich. Ich mag das so. Aber manchmal frage ich mich, ob ich vor lauter Planung das Leben selbst verpasse. An einem solchen Abend, es war im Frühjahr 2025, ging ich eine Wette gegen mein eigenes optimiertes Ich ein, als ein Akt des analogen Trotzes: Ist es möglich, die Verbindung zur echten Welt wiederherzustellen, wenn ich mich einem anderen, einem langsameren Takt unterwerfe? Wenn ich einfach die U-Bahn vor der Haustür einsteige und mit den Öffis zu meiner Ferienhütte am Falkert in den Kärntner Alpen, kurz vor der Grenze zu Italien und Slowenien fahre? Ich wollte aber nicht einfach nur mal raus- und runterkommen. Ich möchte mich schon auf dem Weg bewusst der Taktung und Geschwindigkeit der Schnellzüge entziehen, die an der Welt da draußen vorbeischießen. Klar, dieser ÖPNV-Trip von Hamburg zu meinem Ferienhaus könnte mich ziemlich aus der Bahn werfen. Aber vielleicht geht es ja genau darum.


Fotograf Kevin und ich machen uns im feinen Sprühnebel von Hamburg-Buckhorn auf den Weg. Auf dem Monitor in der U1 formt eine Frau in Gebärdensprache das Wort „Aussteigen“ – und ich nehme es als Omen. Die U-Bahn rattert dem Hauptbahnhof entgegen. Zum ersten Mal aussteigen – auch aus der eigenen Filterblase. Der Geruch von heißem Asia-Nudel-Fett, altem Kaffee und feuchten Kleidern liegt in der Luft. Ein Mann schluchzt beim Abschied von seinem Freund, seine Finger krallen sich in den Stoff von dessen Anorak. Ich denke an die unzähligen Male, an denen ich meine Kinder am Kita-Tor habe stehen lassen, ein schneller Kuss, ein „bis später“. Wir üben das Abschiednehmen im Kleinen, jeden Tag, und hoffen, für die großen Abschiede gewappnet zu sein. Daneben starrt eine Soldatin auf einer Bank ins Leere, während eine Taube unbeeindruckt ihr heruntergefallenes Stück Franzbrötchen zerpickt. Alles konzentriert sich auf die große Anzeigetafel, die mit jeder Änderung neue Schicksale ausspucken: Wer nimmt den Termin wahr, wenn der eigene Zug zu spät ankommt in Berlin? Wer holt einen ab, wenn man erst spät am Abend in Kopenhagen einfährt? Wie kommt man nach Sylt, wenn mal wieder eine Sturmflut zuschlägt?
Unser Fahrplan ist sportlich: Eine Kette aus acht Umstiegen hat der DB Navigator ausgespuckt. Die Umsteigezeiten sind wahnwitzig. Die sechs Minuten Zeitpuffer in Erfurt scheinen mir unmöglich, selbst ohne den Einfluss höherer Gewalt. Statt auszusteigen, überlege ich kurz, ob ich gar nicht erst einsteigen soll. Zum Glück ist unser erstes Etappenziel bescheiden: Uelzen, Niedersachsen. Ein Schienenabschnitt nach dem anderen.
Die gelb-blauen Polster im Metronom haben das Muster einer längst vergangenen Design-Epoche. Neben uns thront Susann, 59. Sie ist auf dem Rückweg nach Lüneburg, war beim Hausarzt in Hamburg. „Nützt ja nix! Bei uns auf dem Land nehmen die Ärzte keine Kassenpatienten mehr auf.“ Ihr Zug am frühen Morgen ging kaputt, Anschluss weg – sie erzählt das nicht mit Groll, sondern mit der abgeklärten Heiterkeit einer sattelfesten Regionalbahnheldin. „Ich fahr doch nicht mit dem Auto. Ich bin doch nicht bekloppt. Der ganze Stress, die Parkplatzsuche in der Stadt? Da sitz ich lieber hier.“ Nickende Zustimmung bei den Fahrgästen gegenüber. Ich komme ins Grübeln. In meiner Welt folgt jeder Tag einem ganz konkreten Fahrplan. In meiner Welt wäre Susanns Odyssee ein Grund für drei wütende E-Mails. In ihrer Welt ist es nur eine lustige Anekdote.


In Uelzen hechten wir durch den Hundertwasser-Bahnhof – ein fantastischer, fast unwirklicher Ort mit unzähligen leuchtenden Mosaiksteinen und geschwungenen Säulen. Warum bin ich hier noch nie ausgestiegen, schießt es mir durch den Kopf. Aber die Zeit drängt, der Anschlusszug fährt in acht Minuten. Außerdem müssen wir noch das Gleis dreihunderteins finden – als ob das so einfach wäre! Ein älterer Herr im Lodenmantel, der nach Pfeifentabak und alter Wolle riecht, dem wir von unserem Vorhaben erzählen, schüttelt den Kopf. „Mit dem Regio nach Österreich? Seid ihr noch ganz frisch? Nehmt doch den Nightjet nach Innsbruck, dann habt ihr den ganzen Zirkus ratzfatz hinter euch.“ Ich zögere kurz und antworte: „Aber dann hätten wir Sie nicht getroffen.“ Er lacht.
Während wir im RE2 nach Göttingen unser Baguette mit Parmesan, Pesto und Rucola genießen, erhebt eine Frau auf der Vierersitzbank gegenüber das Schlafen zur Performance- Kunst. Ich merke, wie mein Hintern langsam seine angestammte Form verliert und zum Seismographen der Schienenstöße wird, zu einem physischen Logbuch dieser Reise. Draußen verwandelt sich die norddeutsche Tiefebene in ein hypnotisches GIF: Raps, Windrad, Kuh, Raps, Windrad, Kuh – immer das gleiche, sich wiederholende Bild. Die Sonne, die durch die Bäume am Gleisrand flackert, legt einen Stroboskop-Effekt über das Gesicht meines dösenden Fotografen. Anfangs genieße ich diese Momente der Monotonie. Doch nach drei Stunden kippt es. Die Ruhe wird zur Projektionsfläche für all die Gedanken, die ich sonst verdränge. Reicht meine Rentenvorsorge? Wann habe ich meinen Vater das letzte Mal angerufen? Die Stille ist plötzlich lauter als jeder Kindergeburtstag. Und ich begreife: Nicht der Lärm meines Lebens macht mir Angst. Es sind die Fragen, die die Stille stellt.



Kurz darauf steigen Tom und Henning ein, die auf dem Weg zu einem Freund in München sind. Tom, Zimmermann in spe mit einem Faible für Philosophie, will sich, es ist kaum zu überhören, das chinesische Schriftzeichen für „Stärke“ unter das Auge stechen lassen – ein in die Haut gemeißeltes Mantra der Selbstermächtigung. Henning, Meister der Elektronik, eher pragmatisch veranlagt, schüttelt lachend den Kopf. Wir kommen ins Gespräch, zocken Uno, tauschen Geschichten aus, diskutieren über die Ethik von Drohnenkriegen und die richtige Art und Weise ein Huhn zu schlachten, teilen Zweifel und Hoffnungen. Tom findet, dass man sich im Leben manchmal absichtlich verirren muss, um sich selbst zu finden. Ich stutze: „Mein derzeitiges Leben“, sage ich zu ihm, „ist darauf ausgelegt, mich bloß nicht zu verirren.“
Und als wären wir Figuren in einem Drehbuch, entpuppt sich dann kurz vor Göttingen wieder einmal ein umgestürzter Baum als großer Gleichmacher des deutschen Schienenverkehrs. Unseren Anschlusszug können wir damit ebenfalls knicken. Ein kollektives Stöhnen geht durch den Waggon. Unser Philosophiekreis aber ist um eine Erkenntnis reicher: Am Ende ist es egal, ob du im Hightech-ICE sitzt oder in einem ratternden Regio – gegen die Natur sind wir alle machtlos! Wir vertreiben uns die Wartezeit mit „Schweinewürfeln“. Kurz darauf schlägt der DB Navigator uns eine neue Route vor – nicht mehr über Nürnberg und München fahren, sondern weiter östlich, über Bamberg und Passau. Unser Plan ist tot. Es lebe der Plan. Als wir endlich in Erfurt ankommen, helfen wir Kofferomas und Kinderwagenpapas beim Raus- und Reinrangieren. Eine Solidargemeinschaft der Gestrandeten. Weil unsere nächste Verbindung erst anderthalb Stunden später fährt, schlendern Tom, Henning, Kevin und ich mit Falafeln bewaffnet zur alten Krämerbrücke über dem Fluss Gera. Die Stadt riecht nach Sommerregen auf heißem Kopfsteinpflaster. Wir kaufen eine Runde Spaghetti-Eis, halten unsere verschwitzten Füße in den Fluss, bestaunen die Fachwerkhäuser. Ein perfekter Nachmittag, so ungeplant und zufällig.




Nachdem wir uns in Regensburg von Tom und Henning verabschiedet haben, fahren Kevin und ich weiter bis Plattling. Hier sammelt ein wortkarger Busfahrer ein. Während er mithilfe von Google Maps durch die Finsternis Niederbayerns navigiert, kleben unsere Gesichter an den Scheiben wie damals im Schulbus nach der LAN-Party. In Passau rüttelt der Fahrer an meiner Schulter. Aussteigen! Schon wieder, denke ich – und stehe dann um drei Uhr morgens an einem Provinzbahnhof, der nur vom Summen und Leuchten eines Getränkeautomaten belebt wird. Der ICE, der gegenüber ruht, könnte nach Österreich katapultieren. Aber das wäre zu einfach. Deshalb: Zähneputzen am Gleis, ein kurzes Nickerchen auf dem Schotterplatz neben den Fahrradständern. Später, im ersten ÖBB-Zug nach Wels, falle ich in einen komatösen Schlaf.




Dann, mit dem ersten Sonnenlicht, die Erlösung: Salzburg. Bis hierher hat uns das Deutschland-Ticket gebracht. Ein „Grüß Gott!“ über den Lautsprecher, ein Siebträgerkaffee im Bahnhof, das weckt meine Lebensgeister. Im nächsten Zug nach Bischofshofen kann man die Fenster noch aufschieben. Ich stecke den Kopf hinaus. Der Fahrtwind riecht nach feuchter Erde, frisch gemähtem Heu und wäscht den Zynismus der letzten 24 Stunden von der Seele. Vor uns, bei Golling, erheben sich die ersten Gipfel der Alpen. Schienenersatzverkehr ab Bischofshofen. Im Schnellbus geht’s durch den Tauerntunnel. Am Millstätter See schwärmt ein Kärntner Postbusfahrer mit hartem Dialekt von seinem Trip im ICE-Bordrestaurant zum Musical in Hamburg. Weil er wie wir eine Brotzeit nötig hat, hält er am Supermarkt an. Gemeinsam schlendern wir durch die Kühlregalreihen, wo er uns Topfen-Frischkäse, frisch geriebenen Meerrettich und Gelundener Kümmelkäse anpreist.




Das letzte Stück den Falkert hoch nimmt uns eine bulgarische Saisonarbeiterin in ihrem Auto mit. An der Sechszirbenhütte angekommen, schälen wir uns raus aus unseren schwitzigen Klamotten, stärken uns mit einem schnellen Rührei und steigen dann in die Wanderschuhe. Jetzt nur nicht hinlegen, sondern auch noch das letzte Stück bis zum Gipfel schaffen. Das Blut, das stundenlang gestaut war, schießt uns in die Muskeln. Die Oberschenkel brennen. Der scharfe, harzige Duft von Zirben kribbelt in der Nase. Auf dem schmalen Pfad durch die Alprauschblüte knirscht es unter den Schuhen. Stoisch setze ich einen Fuß hinter den anderen und denke an die vergangenen zwei Tage, die sich anfühlen wie eine ganze Woche voller Leben. Psycholog:innen nennen das den „narrativen Dehnungs-Effekt“: Die geringere Geschwindigkeit und die höhere Anzahl an Eindrücken führen dazu, dass das Gehirn ein Erlebnis als länger und ereignisreicher abspeichert. Und genau das fühle ich.



Nach 26 Stunden, endet unsere Odyssee mit dem ÖPNV, auf die wir uns ganz bewusst eingelassen haben. Auf dem Gipfel des Falkerts, in 2307 Metern Höhe, entfaltet sich ein Panorama, das die Welt zum erhabenen Kunstwerk macht. Während der Wind leise pfeift und das Herz ganz voll ist, wird mir eines klar: Die eigentliche Einsicht dieser Reise ist nicht die Entdeckung der Langsamkeit. Es ist die Erkenntnis, dass das größte Abenteuer in unserer ziemlich durchgetakteten Zeit vielleicht darin besteht, auch mal die Kontrolle abzugeben, mal wieder Raum für das Ungeplante zu schaffen. Ein Fahrplan, ob nun auf Reisen oder im Leben allgemein, gibt Sicherheit, klar. Aber macht es auch schwer, Neues zu entdecken. Die besten Dinge – authentische Begegnungen, echte Gespräche, unerwartete Schönheit – sind schlichtweg nicht planbar. Vielleicht sollten wir uns also manchmal absichtlich verirren, öfter mal Umwege gehen, um am richtigen Ort rauszukommen.
