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„Pünktlich wie die Eisenbahn – da müssen wir wieder hin“

Als Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag sorgt Tarek Al-Wazir für viele spannende Insights in unserem Podcast „Ticket to Anywhere“. Im Zusatz-Interview erklärt er, was  wir von Autofahrer:innen im Jemen lernen können, wie absurd das Fahrkartensystem von früher war und welche Verkehrsbaustellen er zuerst angehen würde

Interview: Laslo Seyda

Herr Al-Wazir, Sie sind in Offenbach aufgewachsen, haben dort zeitweise an einer großen Durchfahrtsstraße gewohnt. Als Teenager haben Sie außerdem zwei Jahre bei Ihrem Vater in Sanaa im Jemen gelebt – und dort das Autofahren gelernt. Wie hat das alles Ihr Verständnis von Mobilität geprägt?

Tarek Al-Wazir: Autofahren im Jemen war natürlich ganz besonders. Sie können sich vorstellen, dass es da nicht so hundertprozentig regelbasiert abläuft wie es zum Beispiel die deutsche Straßenverkehrsordnung vorsieht. Aber da die Menschen vor Ort eigentlich immer erwarten, dass die anderen Fehler machen, sind alle insgesamt vorsichtiger unterwegs. Die deutsche Reihenfolge, erst hupen und dann bremsen ist halt nicht klug. Erst bremsen ist besser, und gehupt wird im Jemen sowieso immer. Viel interessanter ist aber eine andere Erfahrung: In der Oberstufe bin ich auf eine Schule in Frankfurt gewechselt – und damals gab es noch keinen Verkehrsverbund zwischen Offenbach und Frankfurt. Wenn ich also mit der Straßenbahnlinie 16 zur Schule und wieder nach Hause gefahren bin, musste ich jedes Mal an der Stadtgrenze einen neuen Fahrschein lösen, entweder beim Fahrer oder aussteigen und zum Automaten. Bizarr, wenn man sich vorstellt, dass das gerade einmal 30 Jahre her ist. Daran kann man aber auch sehen, wieviel sich seitdem getan hat im ÖPNV. Der Rhein-Main-Verkehrsverbund RMV geht von Marburg bis Darmstadt und mit dem Deutschlandticket gilt der Fahrschein in jedem Bus und jeder Straßenbahn in Deutschland. Oft sind wir Menschen aus gutem Grund unzufrieden mit dem System. Gleichzeitig übersehen wir die positiven Veränderungen.

Wie sind Sie denn am liebsten unterwegs?

Tarek Al-Wazir: Die Einführung von Verkehrsverbünden – nicht nur im Rhein-Main-Gebiet, sondern an vielen anderen Orten in Deutschland, hat die Nutzung des ÖPNV erheblich erleichtert. Außerdem ist die Taktung der Busse und Bahnen in den Metropolen um Längen besser als früher. Und weil das Angebot ausgeweitet wurde, nutzen es auch viel mehr Menschen und viel öfter. Wir haben heute 70 % mehr Regionalverkehr auf der Schiene als vor der sogenannten Regionalisierung vor 30 Jahren. Und dementsprechend viel mehr Nutzerinnen und Nutzer. Das ist doch eine gute Entwicklung!

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass leider nicht alles rund läuft. Wo sehen Sie den größten Nachholbedarf?

Tarek Al-Wazir: Wir müssen deutlich schneller werden beim Ausbau, gerade im Bereich der Bahn. Vor kurzem erst war ich beim Spatenstich der Nordmainischen S-Bahn zwischen Frankfurt und Hanau – ein Projekt, über das seit 50 Jahren gesprochen wurde! So eine lange Diskussions-, Planungs- und Bauzeit kann nicht unser Anspruch sein. Auch nicht, dass die neuen Regionalzüge der Main-Neckar-Bahn zwar die ersten mit WLAN waren, am Anfang aber aufgrund defekter Türen ständig ausgefallen sind. Gleichzeitig haben wir ein massives Infrastrukturproblem, weil in den letzten 30 Jahren viel zu wenig ins Netz investiert wurde. Es gibt ja wirklich immer noch eine Menge Stellwerke, die mechanisch funktionieren und wo jemand mit großen Hebeln oder mit Seilzügen hantiert – unter solchen Voraussetzungen ist das weder ein attraktiver Arbeitsplatz und es ist es natürlich schwierig mit dem Erfassen von Echtzeitdaten. Wir müssen also sanieren und erneuern, aber brauchen dringend auch neue Strecken und zusätzliche Gleise. Unser Schienennetz wird von Güter-, Fern- und Regionalverkehr gemeinsam genutzt, das sorgt für Stau auf der Schiene. Wenn ich aber zum Beispiel zwischen Hanau und Fulda eine neue ICE-Strecke baue, dann wird die Bestandsstrecke im Kinzigtal frei, dann fahren da mehr Züge, die auch nicht ständig auf Abstellgleise ausweichen müssen, wenn von hinten ein verspäteter ICE drängelt. Es gibt also noch jede Menge zu tun.

Von 2014 bis 2024 waren Sie stellvertretender Ministerpräsident und Verkehrsminister in Hessen. Was konnten Sie in dieser Zeit bewegen?

Tarek Al-Wazir: Es war lange mein Traum, dass alle Schülerinnen und Schüler in Hessen ein landesweit gültiges Ticket bekommen. Als ich das 2014 vorgeschlagen habe, haben mir fast alle gesagt: Viel Glück damit, das schaffst du nie! Immerhin gab es 33 lokale Verkehrsorganisationen und 33 Kreise und Städte, die unter einen Hut zu bringen waren und mitziehen mussten. Aber es hat funktioniert. 2017 haben wir mit dem Schülerticket das deutschlandweit erste landesweite Flatrate-Ticket für Bus und Bahn eingeführt. Und weil das so ein großer Erfolg war, sind darauf die nächsten Hessentickets für Landesbeschäftigte und Seniorinnen und Senioren gefolgt. In gewisser Weise war das der Prototyp für das Deutschlandticket. Darauf bin ich schon stolz.

Trotzdem wurden Sie 2023 vom Fahrgastverband Pro Bahn mit dem Negativpreis „Hessischer Hemmschuh“ bedacht. Die Begründung: Sie hätten sich zu wenig für den öffentlichen Nahverkehr eingesetzt…

Tarek Al-Wazir: Darüber habe ich mich sehr geärgert. Ich habe ja nicht nur die unterschiedlichen Flatrate-Tickets eingeführt. In jedem Jahr meiner Regierungszeit haben wir die Regionalisierungsmittel des Bundes mit Landesgeldern weiter aufgestockt, damit das Angebot ausgeweitet werden konnte. Wir haben Modellprojekte, in denen jedes Dorf im Stundentakt angebunden war, in den Regelbetrieb überführt. Und dann kommen irgendwelche Leute, die nur motzen und schimpfen und hängen ausgerechnet dem, der am meisten für Bus und Bahn getan hat, so eine Auszeichnung um? Das kann ich nicht nachvollziehen. Aber so ist das halt in der Politik. Manche Dinge muss man einfach wegatmen…neulich habe ich aber Leute wiedergetroffen, die mich damals heftig kritisiert haben. Die haben sich mehr oder weniger bei mir entschuldigt, weil ihnen erst in den letzten anderthalb Jahren klargeworden wäre, was sie an mir hatten. Immerhin.

Welche Ziele haben Sie sich denn als Vorsitzender des Verkehrsausschusses gesetzt?

Tarek Al-Wazir: Neben den Investitionen in die Infrastruktur ist mir vor allem Planungssicherheit wichtig. Es kann meiner Meinung nach nicht sein, dass die Bürgerinnen und Bürger immer erst im November oder Dezember sicher wissen, ob das Deutschlandticket im darauffolgenden Jahr weitergeführt wird. Wenn wir wollen, dass die Leute weniger oder gar kein Auto mehr fahren, brauchen sie eine Garantie: Das Ticket gibt es auch nächstes Jahr noch, der Preis bleibt auch übernächstes Jahr bezahlbar. Wenn daran nicht gerüttelt wird, steigen die Menschen auch um – und dann ist auch ein Teil des Finanzierungsproblems des Deutschlandtickets gelöst. Und natürlich müssen wir gerade im ländlichen Raum für ein besseres Angebot sorgen. Ich setze da große Hoffnungen in das autonome Fahren…

Allesamt wichtige Ansätze – die aber auch alle irgendwie finanziert werden müssen…

Tarek Al-Wazir: … und das muss mit Sinn und Verstand passieren. Die Investitionen müssen regelmäßig und planbar sein, auch die Regionalisierungsmittel müssen regelmäßig steigen und auf jeden Fall die Inflation abdecken – das war in den letzten Jahren nicht der Fall. Auf irgendwelche kurzfristigen Sonderprogramme würde ich komplett verzichten. Die werden gerne mal eben so reingeworfen, verpuffen dann aber schnell und führen im Zweifel nur dazu, dass die Baupreise künstlich hochgehen. Und das Engagement für Investitionen darf  nicht dazu führen, dass der Betrieb unbezahlbar wird. Wenn nämlich Trassenpreise für die Betreiberunternehmen steigen, steigen auch die Ticketpreise – und irgendwann steigen die Kundinnen und Kunden dann aus. Das ist ein Teufelskreis, den wir lösen müssen. Man könnte zum Beispiel Unternehmen dazu bringen, sich an den Kosten für Jobtickets zu beteiligen. Gerade in Innenstädten profitieren sie ja sehr davon, wenn sie von allen Seiten gut erreichbar sind. Das macht sie attraktiv für qualifizierte Arbeitnehmerinnen und -nehmer. In anderen Ländern gibt es so eine Nahverkehrsabgabe bereits, in Deutschland fehlt da bislang leider die Rechtsgrundlage. Dabei könnte das eine weitere Finanzierungssäule sein.

Für ein besseres ÖPNV-Angebot braucht es aber auch mehr Bus- und Bahnfahrer:innen. Und in den kommenden Jahren gehen Zehntausende Busfahrer:innen in Rente. Wie würden Sie den drohenden Personalmangel lösen?

Tarek Al-Wazir: Natürlich brauchte es höhere Gehälter, die waren jahrelang viel zu schlecht. Das ändert sich zum Glück bereits. Auf der anderen Seite muss uns klar sein, dass mit einem Gehalt von 3700 Euro brutto, mit dem die BVG in Berlin gerade wirbt, im ländlichen Raum der Ausbau des Angebots absolut nicht finanziert werden kann, weil da im Schnitt deutlich weniger Passagiere an Bord sind. Es braucht also technologische Lösungen wie autonome Fahrzeuge, die ohne Personal auskommen und so die Kosten senken. Bis wir so weit sind, müssen wir aber auch den Beruf an sich attraktiver machen. Es braucht mehr Respekt, mehr Anerkennung, mehr Wertschätzung. Bus- oder Bahnfahrerinnen und -fahrer erfüllen schließlich eine wichtige Funktion. Ein Guten Tag und Tschüss beim Ein- und Aussteigen wäre schon mal was. Man kann auch mal Danke sagen. Wir müssen mehr Frauen ansprechen, die sind völlig unterrepräsentiert in dem Berufsbild. Man müsste aber parallel dazu auch die Kosten des Führerscheins runterschrauben, ich bin übernächsten Monat in Österreich und will dort mal fragen, wieso der Führerschein da deutlich weniger kostet. Aber selbst, wenn wir das alles umsetzen können, dürfen wir uns  keine Illusionen machen, dass wir den Fachkräftemangel allein lösen können. In Deutschland verzeichnen wir nämlich nur noch rund 700.000 bis 800.000 Geburten pro Jahr – das sind halb so viele Geburten wie Mitte der 1960er-Jahre. Wir brauchen also auch Zuwanderung.

Wie steht Deutschland in Sachen ÖPNV denn im europäischen Vergleich da?

Tarek Al-Wazir: Auch wenn sich manche jetzt vielleicht wundern: Bei der Anbindung des ländlichen Raums sind wir immer noch viel besser als andere große Flächenländer. Wer wirklich mal abgehängten ländlichen Raum sehen will, der sollte nach Frankreich fahren. Da fährt der TGV zwar jede Stunde, ist pünktlich und mit 400 Sachen unterwegs, abseits der Hauptstrecken gibt es aber viel zu wenige Verbindungen. In diesem Fall hat unser oft kritisiertes föderales System, in dem die einzelnen Landesregierungen ganz genau auf die Bedürfnisse vor Ort achten, also echte Vorteile. Am Beispiel TGV kann man aber auch sehr gut sehen, wie sich rechtzeitige Investitionen in Neubaustrecken lohnen. Ich finde, es sollte einfach selbstverständlich sein, dass das ganze System gut funktioniert – in der Stadt und auf dem Land. Meine Oma hat früher immer gesagt: Pünktlich wie die Eisenbahn. Diese Redensart habe ich lange nicht mehr gehört. Da müssen wir wieder hin. Wir müssen wieder ein Land werden, das einfach funktioniert.

Tarek Al-Wazir, 54, Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen und seit Mai 2025 Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag, war zehn Jahre lang Verkehrsminister in Hessen. Während seiner Zeit als Fraktionsvorsitzender im Landtag hat er seinen ältesten Sohn zur Kita gebracht – mit dem Kindersitz im Dienstwagen. Das Verkehrsmittel, das seine Sicht auf Mobilität im Alltag grundlegend verändert habe, sei der Kinderwagen gewesen, so Al-Wazir. Viel zu oft habe er damit vor Treppen, Absätzen, Bahnsteigen ohne Rampe sowie Bahn-Eingängen mit zu engen Einstiegen gestanden und sei nicht weitergekommen. Diese Hindernisse seien ihm vorher nie aufgefallen. Alle Infos zu „Ticket to Anywhere“ und die Links zur Folge mit Tarek Al-Wazir findet Ihr hier.

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