Interview: Laslo Seyda
Herr Zierden, Sie sind in der Gemeinde Westoverledingen in Ostfriesland aufgewachsen. Laut einer Greenpeace-Studie sind 87 Prozent der Bevölkerung dort schlecht angebunden an den ÖPNV. Wie haben Sie das Thema Mobilität in Ihrer Kindheit und Jugend erlebt?
Malte Zierden: Die Sache mit der Anbindung war wirklich nicht schön. Der Bus fuhr bei mir zuhause nur alle zwei Stunden – wenn überhaupt. Freunde in anderen Dörfern treffen? Schwierig. Spontan ging schonmal gar nichts. Und wenn ich als Teenager abends wegwollte, war das immer ein riesiger Akt. Meine Eltern hatten natürlich wenig Lust, mich um zehn Uhr zu irgendeiner Party nach Oldenburg zu fahren und mich morgens um fünf wieder abzuholen. Deshalb haben bei uns so gut wie alle mit 18 Jahren sofort den Führerschein gemacht. Damit man einfach etwas freier ist.
Das klingt nach extremer Abhängigkeit.
Malte Zierden: Absolut. Und in den letzten Jahren ist es in Ostfriesland nicht besser geworden. 2024 hat es große Proteste gebraucht, um die Stilllegung der wichtigen Buslinie 621 zu verhindern. Ich weiß auch noch genau, wie ich bei einem meiner letzten Besuche plötzlich dringend zum Bahnhof nach Leer musste, um es zu einem wichtigen Termin in Hamburg zu schaffen. Aber Leer ist eine halbe Stunde entfernt. Meine Eltern konnten mich nicht bringen. Deshalb habe ich alle Taxizentralen im Umland abtelefoniert. Keine Chance! Das früheste Taxi wäre nach anderthalb Stunden gekommen – viel zu spät. Also hing ich fest. Gestrandet in der eigenen Heimat. So ist es leider manchmal, das Leben auf dem Land.
2021 sind Sie nach Hamburg gezogen. Das muss ja ein echter Kulturschock gewesen sein…
Malte Zierden: Klar, das war erst einmal maßlose Überforderung! Du bist es gewohnt, in der Pampa ewig auf den Bus zu warten – und plötzlich stehst du am Hauptbahnhof in Hamburg. Übertrieben überfüllt und unendlich viele Eindrücke. Verschiedenste Gänge, Ebenen und tausende Menschen, die sich zu ihren Gleisen kämpfen. Geordnetes Chaos. Ein bisschen wie in einem Bienenbau. Kein Leichtes Spiel für ein Dorfkind. Und gleichzeitig ist es eine krasse Befreiung! In Hamburg brauche ich kein Auto. Zur S-Bahn-Station sind es fünf Minuten zu Fuß. Da kann ich einfach einsteigen und los geht’s. Und wenn man mal eine Bahn verpasst, dann nimmt man halt die Nächste. Das fühlt sich für mich an wie eine andere Welt.
Sie haben von 2015 bis 2019 Sozialwissenschaften studiert. Dafür sind Sie drei Stunden mit dem RB41 zur Universität nach Vechta gependelt und drei Stunden zurück. Was haben Sie in dieser Zeit über die Menschen in Deutschland und ihr Mobilitätsverhalten gelernt?
Malte Zierden: Wer so viel Zeit im Zug verbringt, hat echt alles gehen: Neben mir saßen Leute, die sich die Fingernägel abgeknipst haben. Punks haben sich im Fahrradabteil besoffen. Irgendwelche Akrobaten haben da Kunststückchen mit Holzstäben gemacht. Es wird jedenfalls nie langweilig. Delmenhorst war immer der Höhepunkt, da ist es anders wild. Und gleichzeitig total normal. Ich habe Hunderte solcher Anekdoten. Grundsätzlich habe ich das Phänomen beobachtet, dass sich viele Menschen in der Bahn wie im eigenen Wohnzimmer fühlen: Schuhe aus, Füße hoch, Bluetooth-Box auf Anschlag und Döner mit Tsatsiki reinknallen. Es wird irgendwie kaum aufeinander geachtet.
Warum ist das so?
Malte Zierden: Ich glaube, vielen denken nicht darüber nach, dass sie im Zug mit anderen Menschen unterwegs sind. Wenn ihre Schwester für eine Prüfung lernen würde, würden die zuhause die Musik garantiert nicht so laut machen. Aber in der Bahn? Da gelten eigene Gesetze! Ich habe das Gefühl, dass in der Bahn oftmals kein Wir-Gefühl herrscht.
Und trotzdem sind Sie überzeugter Bahnfahrer?
Malte Zierden: Total. Auch wenn es mir manchmal schwerfällt. Ich habe soziale Ängste. Viele Menschen und enge Räume sind für mich richtig herausfordernd. Generell würde ich mir aber von der Gesellschaft mehr Verständnis und Unterstützung wünschen für Menschen, die solche Probleme haben. Auch im Regio sollte es Abteile geben, in denen man sich zurückzuziehen und kurz durchatmen kann. Bei Konzerten von Ski Aggu und Ikkimel zum Beispiel werden inzwischen auch Ruhezonen und Safe Spaces für Schwangere oder neurodiverse Menschen eingerichtet. Und die Idee ist ja auch nicht so weit weg von den Raucherzonen am Bahnhof oder den Kinder- und Ruheabteilen im ICE.
Bei Ihrer Tätigkeit als Tierschützer haben Sie schon Hühner und Schweine aus Zuchtbetrieben befreit, sogar Straßenhunde aus den Kriegsgebieten der Ukraine gerettet. Meistens sind Sie dabei mit dem Auto unterwegs. Haben Sie da manchmal ein schlechtes Gewissen? Wer Tiere liebt, sollte doch auch die Umwelt schützen, werden manche sagen…
Malte Zierden: In diesem moralischen Dilemma stecke ich ständig. Tierleben sind nun einmal abhängig von Mobilität der Tierschützer:innen. Letztens habe ich eine verletzte Dohle aufgesammelt und musste die irgendwie nach Hause bekommen. Aber so ein überfordertes Tier, kann ich ja nicht einfach mit in die völlig überfüllte Bahn nehmen, dann riskiere ich das Leben eines hilfsbedürftigen Lebewesens. Deshalb habe ich mir ein Carsharing-Fahrzeug besorgt. Und wenn wir bei unseren großangelegten Rettungsaktionen Tiere aus katastrophalen Verhältnissen holen, brauchen wir Transportkisten, Equipment, Platz – ohne Auto geht das nicht. Wenn ein Fahrzeug aber eine klare, gute Funktion hat – wie bei der Feuerwehr, bei Rettungsdiensten, beim Tierschutz, – dann finde ich das auch legitim. Was mich stört, sind die absurden Ausmaße, die der Individualverkehr angenommen hat.
In Ihrer Heimat wird gerade eine neue A20/A26 Autobahn geplant. Für viele Menschen in der Region bedeutet das einen kürzeren Arbeitsweg, neue Freizeitmöglichkeiten, soziale Teilhabe. Was halten Sie von dem Projekt?
Malte Zierden: Ich finde, wir sollten gar keine neuen Autobahnen bauen. Mehr Autobahnen schaffen doch nur Platz für noch mehr Autos. Dabei ist unser Planet doch jetzt schon am Limit. Anfang Juli haben wir Temperaturen von fast 40 Grad. Alle ächzen vor Hitze. Es ist doch eindeutig, dass der Klimawandel keine bloße Theorie mehr ist. Wir stecken mittendrin! Ich mache mit Sicherheit auch nicht alles richtig, aber wenn wir dafür eine Lösung finden wollen, müssen wir uns wohl oder übel der Frage stellen, wie wir Menschen uns bewegen.
Was wären Ihre Lösungsansätze?
Malte Zierden: Wir müssen das Problem endlich ganzheitlich angehen. Für mich heißt das: Den ÖPNV ausbauen, aber auch Arbeitsorte und -zeiten flexibler gestalten. Vielleicht können einige Betriebe ihre Arbeitszeiten an die Zeiten der öffentlichen Verkehrsmittel anpassen. Vielleicht ist das nicht einfach, aber so könnte man Menschen dazu bringen, mehr Busse und Bahnen zu nutzen. Immer noch besser, als wenn alle mit dem Auto anreisen und die Stadt zuparken. Überhaupt sollten wir zugepflasterte Flächen wieder entsiegeln und die Natur in die Stadt zurückholen. Das wäre so schön. Mehr Grünflächen würden nicht nur unsere Lebensqualität steigern, sondern auch neue Lebensraum für Tiere schaffen. Der Hamburger Hauptbahnhof ist ein richtig gutes Beispiel dafür, wie Tierschutz in der Stadt mitgedacht werden kann. Die Bahnmission hat da unterm Dach einen Taubenschlag eingerichtet, wo die Stadttauben vom Hamburger Stadttauben e.V. versorgt und behandelt werden. Das ist so wichtig für eine gesunde Stadttaubenpopulation.
Brauchen denn Tauben wirklich unseren Schutz?
Malte Zierden: Ja! Unbedingt! Stadttauben ist ein menschengemachtes Problem. Ursprünglich stammen sie von Felsentauben ab, die wir domestiziert haben, um sie als Brieftauben zu nutzen, um sie zu essen oder um an ihnen zu forschen. Jetzt, wo wir sie nicht mehr brauchen, werden sie von uns gehasst. Stadttauben sind also zutiefst missverstandene Lebewesen, die unsere Hilfe brauchen – nicht unsere Verachtung. Und beim ÖPNV ist es ähnlich: Statt immer nur zu meckern, warum die Bahn wieder zu spät ist oder der Bus nicht kommt, sollten wir uns mal lieber mal ernsthaft damit auseinandersetzen, woran das liegt – und dann an Lösungen arbeiten.
Malte Zierden, 36, hat seit 2020 auf TikTok und Instagram mehr als zwei Millionen Follower gesammelt. Berühmt wurde er u.a. mit Videos aus dem Regionalzug, bei denen er seine Reaktion auf andere Fahrgäst:innen aufzeichnete. Als sich 2022 eine Stadttaube in sein Hamburger Badezimmerfenster verirrte, baute er ihr ein eigenes Miniaturwohnzimmer, freundete er sich über Monate hinweg mit ihr an und taufte sie Oßkar. Seitdem engagiert sich Zierden für den Tierschutz.. Alle Infos zu „Ticket to Anywhere“ und die Links zur Folge mit Malte Zierden findet Ihr hier.