Interview: Carsten Hänche
Herr Möller, die ÖPNV-Unternehmen stehen finanziell unter Druck, beklagen steigende Kosten und zu geringe öffentliche Mittel. Was bedeutet das für die Fahrgäste?
Alexander Möller: Wir sehen zwei direkte Folgen. Erstens leidet die Qualität, mit der wir selbst nicht zufrieden sind. Die Mitarbeitenden der Verkehrsunternehmen geben ihr Bestes, aber durch die knappen Mittel ist eine bessere Leistung kaum möglich, das merken auch die Fahrgäste. Zweitens leidet der Umfang des Verkehrsangebots, also die Quantität. Nötig wäre ein Ausbau, sowohl im Schienen- als auch im kommunalen Verkehr, im ländlichen und auch städtischen Raum. Ohne mehr Finanzmittel können wir hier nicht vorankommen.
In einer Studie hat der VDV den zukünftigen Finanzbedarf für den ÖPNV bis 2040 untersuchen lassen. Sie beschreibt zwei Szenarien, nämlich „Modernisierung 2040“ und „Deutschlandangebot 2040“. Das Modernisierungsszenario geht davon aus, dass wir pro Jahr mindestens 1,44 Milliarden Euro zusätzlich aus öffentlichen Mitteln brauchen, rund 4,1 Prozent mehr als bisher. Welche Verbesserungen für die Fahrgäste wären damit verbunden?
Alexander Möller: Das Modernisierungsszenario ist das Mindeste, das wir hinkriegen müssen. Ich nenne es auch das „Wir-räumen-auf“-Szenario. Nach aktueller Lage brauchen wir allein 600 Millionen Euro, um die allgemeine Inflation auszugleichen. Im Mittelpunkt der Verbesserungen steht die Infrastruktur, also die Modernisierung von Strecken, Bahnhöfen und Haltestellen. Für die Fahrgäste bedeutet das ein verlässlicheres und besseres Angebot. Wir sind froh, dass der Fokus der Verkehrspolitik in den letzten Jahren auf der bundeseigenen Schiene lag. Das war wichtig, das bleibt auch wichtig. Diesen Fokus müssen wir jetzt breiter setzen und auch die kommunale Infrastruktur einbeziehen. Aber ein Sprung im Sinne eines Angebotsausbaus ist das Modernisierungsszenario nicht. Dafür brauchen wir das Deutschlandangebot.
Für dieses Szenario schlägt die Untersuchung einen Zuwachs von jährlich 7,3 Prozent vor. Das wären 3,36 Milliarden Euro pro Jahr mehr als bisher. Was wäre damit konkret möglich?
Alexander Möller: Das „Deutschlandangebot“ würde über das Modernisierungsszenario hinaus eine spürbare, quantitative Verbesserung des Verkehrsangebots bedeuten – vom Nahverkehr auf der Schiene über den kommunalen Verkehr durch Bus, Tram und U-Bahn bis hin zu einem deutlich gesteigerten On-Demand-Verkehr im ländlichen Raum. Unsere Vorschläge sind keine Phantastereien, die infrastrukturellen Voraussetzungen und die Entwicklung der Kapazitäten haben wir penibel berücksichtigt. Wir fordern auch kein Autoverbot im ländlichen Raum. Dass die Menschen aber weniger abhängig vom Auto sein sollten, ist angesichts steigender Kosten auch aus sozialen Gründen geboten. Mit den beiden Szenarien des Leistungskostengutachtens zeigen wir auf, welche Mittel wir für welchen ÖPNV brauchen – je nach dem, wozu die Politik willens und in der Lage ist. Uns beim VDV ist klar, dass die Bundesregierung nicht fragen wird: Wo dürfen wir unterschreiben, damit ihr das Deutschlandangebot umsetzt?
Zu den öffentlichen Mitteln kommen die Fahrgelderlöse hinzu. Zuletzt waren das rund 12,3 Milliarden Euro pro Jahr, rund ein Drittel der Gesamtaufwendungen für den ÖPNV. Der VDV vertritt die Ansicht, dass dieser Anteil wieder steigen sollte. Weshalb?
Alexander Möller: Weil über Jahre Verkehrspolitik mit Sozialpolitik verwechselt wurde. Die Ticketpreise wurden über lange Zeit nicht so erhöht wie es nötig gewesen wäre, sondern wie es politisch opportun erschien, um Wählerinnen und Wähler nicht zu verschrecken. Das hat die Schere zwischen Kosten und Einnahmen immer weiter geöffnet. Zuerst kam das 9-Euro-Ticket, das die Menschen vom Inflationsschub zu Beginn des Ukrainekriegs entlasten sollte. Daran schloss sich die dauerhafte Entlastung mit dem Deutschland-Ticket für anfänglich 49 Euro an – verbunden mit einer Diskussion, ob ein kostenloser ÖPNV nicht überhaupt der beste ÖPNV sei. Aber der ÖPNV wird nicht besser, wenn die Tickets immer billiger oder kostenlos werden. Wer das verspricht, verspricht den Menschen auch, dass im Himmel Jahrmarkt ist. Qualität gibt es einfach nicht zum Nulltarif. Außerdem scheint die Politik immer weniger bereit oder in der Lage zu sein, Finanzierungslücken zu schließen. Deshalb müssen wir offen über realistische Tarife sprechen und abwägen, wo der Kipppunkt ins Unsoziale liegt.
Ab dem 1. Januar kostet das Deutschland-Ticket 63 Euro, weitere Preisanpassungen sollen über einen Index an die reale Kostenentwicklung gekoppelt werden. Sind sie damit zufrieden?
Alexander Möller: Zunächst einmal sind wir zufrieden, dass es das Deutschland-Ticket auf jeden Fall bis 2030 geben wird. Zu diesem Entschluss hatte die alte Bundesregierung weder die Kraft noch den Willen. Auch mit dem Index sind wir zufrieden. Wir fordern schon seit Sommer 2024, dass wir von politischen Preisfestsetzungen wegkommen und stattdessen die realen Kosten zugrunde legen – auch, weil höhere Ticketpreise damit nachvollziehbarer und eher akzeptiert werden. Wie der Index genau aussehen wird, muss jetzt verhandelt werden. Ganz trivial ist das nicht, weil dieser ja die ganze Branche abbilden muss, also die kommunalen Verkehrsunternehmen genauso wie die Eisenbahnunternehmen und den Mittelstand vor Ort.
Ob nun öffentliche Mittel oder Ticketeinnahmen: Beim Thema ÖPNV geht es immer um riesige Summen. Warum sind mehr Mittel für den ÖPNV gut investiertes Geld?
Alexander Möller: Die zentrale Frage ist, wie der ÖPNV finanziert werden muss, damit wir unseren Job ordentlich und im Interesse unseres Landes machen können. Immerhin hat der ÖPNV die Aufgabe der Daseinsvorsorge, der Versorgung mit öffentlicher Mobilität, was auch den Aspekt der sozialen Teilhabe betrifft. Außerdem haben wir die Aufgabe, das Klima zu schützen und für Klimafreundlichkeit im Verkehrssektor zu sorgen. Und drittes hat der ÖPNV eine Funktion als Wirtschaftsfaktor. Über die wirtschaftliche Bedeutung wird allerdings viel zu wenig geredet. 2024 haben wir dazu mit anderen Partnern die CONOSCOPE-Studie in Auftrag gegeben, ZUKUNFT NAHVERKEHR hat in diesem Jahr eine Studie zur Wertschöpfung im ÖPNV vorgestellt. Die Zahlen beider Untersuchungen sind beeindruckend. Die nachhaltige Mobilitätsbranche allein beschäftigt rund 500.000 Menschen, Und zahlreiche Branchen profitieren davon – vom Bäcker an der Ecke bis zur Werkstatt, die die Fahrzeuge wartet. Ganz konkret heißt das: Jeder investierte Euro bringt dem Land den dreifachen volkswirtschaftlichen Nutzen zurück.
Der VDV hält am Ziel der Mobilitätswende fest?
Alexander Möller: Ich spreche lieber von Mobilitätsveränderung statt Mobilitätswende. Letztere weckt nämlich Erwartungen, die derzeit weder Politik noch Branche erfüllen können. Dabei geht es ja nicht nur um die operativen Möglichkeiten und etwa die Frage, wie viele Pendler man zu Stoßzeiten in Bussen und Bahnen unterbringen kann. Mit dem Begriff wird ja aber auch eine Revolution assoziiert, die individuelle Mobilität völlig überflüssig macht. Das ist ja gar nicht das Ziel. Wir sollten uns lieber auf das konzentrieren, was wirklich leistbar ist. Deswegen sagen wir: Lasst uns nach dem Deutschland-Ticket das Deutschlandangebot in Angriff nehmen. Dann können wir den besten ÖPNV zu bestmöglichem Preis liefern. Als Branche können wir dazu beitragen, indem wir effizienter werden und mehr standardisieren. Und wenn die Politik die richtigen Rahmen bei Regulierung und Finanzierung setzt, haben wir am Ende eine deutlich nachhaltigere Mobilität. Dann können wir das auch Mobilitätswende nennen, aber erst im Rückblick.
Alexander Möller, 52, ist seit April 2023 Geschäftsführer des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) für den Bereich ÖPNV. Den Verkehrssektor kennt der Jurist aus vielen Perspektiven. Nach politischen Stationen u.a. als stellvertretender Fraktionsvorsitzender in der Kieler Ratsversammlung war Möller seit 2006 bei der Deutschen Bahn in verschiedenen Führungspositionen tätig. Zuletzt leitete er DB Regio Bus Nord und war Sprecher der Geschäftsführung verschiedener Busgesellschaften. 2015 wechselte Möller als Geschäftsführer zum Verkehrsclub ADAC, ab 2019 beriet er als Consultant bei Roland Berger die ÖPNV-Branche. Ihr wollt noch mehr über das Leistungskostengutachten erfahren? Eine Website des VDV fasst alle Informationen zusammen.


