Text: Laslo Seyda
Fotos: Steven Lüdtke
Kugelschreiber kratzen über Papier, erste Klebezettelchen wandern an die Wand. Stimmen heben sich, Stirnen runzeln, jemand schiebt die Brille zurecht. Draußen drückt die Sommerhitze gegen die Scheiben, drinnen drückt die Zeit: Nur wenige Stunden bleiben, um neue Konzepte für die Mobilität der Zukunft zu entwickeln.
München, Ende Juni, Workshoptag im Denkraum25. Das Format, das die ÖPNV-Initiative ZUKUNFT NAHVERKEHR zusammen mit dem SZ-Institut auf die Beine gestellt hat, ist kein herkömmlicher Thinktank, eher ein Spielplatz der Ideen. Die Location für das heutige Treffen könnte deshalb passender kaum sein. Das Munich Urban Colab, in dem der Workshop des Ideenlabors stattfindet, gehört zu UnternehmerTUM, dem Innovations- und Start-up-Zentrum der Technischen Universität München. Ein fünfgeschossiges Gebäude mit viel Glas und Sichtbeton, Hockern aus Sperrholz oder recycelten Materialien, Klebestreifenkunst und plakativen bunten Lettern an Decken und Wänden. Das hauseigene Café, benannt nach dem Weltraumabenteurer Flash Gordon, serviert saisonales Gemüse, Bio-Fleisch und Kaffee zu bodenständigen Preisen. Alles hier ist sehr jung, sehr innovativ und schreit nach Zukunft. „One Space. Many Minds. Infinite Ideas“, versprechen Flyer und Website. Diese Offenheit, Vielfalt und Freiheit braucht es auch. Schließlich haben die Teilnehmenden des Denkraum25 die Aufgabe, ein ÖPNV-System zu entwirren, das vielen seit Jahren festgefahren scheint.
24 Wissenschaftlerinnen und Handelsvertreter, Verkehrsplanerinnen und Touristiker, Medienschaffende und Akteure aus der Kommunalpolitik stellen sich dieser Mammutaufgabe. Sie wurden ihrer Expertise wegen ausgesucht, aufgrund ihrer besonderen Perspektive, wegen ihres Netzwerks und Einflusses. Die Hoffnung der Denkraum-Macher: Die Teilnehmenden sollen in den Dialog miteinander kommen, ein Momentum kreieren für den Nahverkehr und die Mobilität der Zukunft. Und weil im Denkraum25 alles imaginiert und auch gesagt werden darf, verzichtet dieser Text darauf, Namen zu nennen.



Ein Teilnehmer schafft es nicht pünktlich zum Start des Workshops, er steckte bei Stuttgart im Stau, schreibt er in einer SMS. Zwei weitere Teilnehmende sitzen im verspäteten Zug. „War ja klar“, sagt jemand, lacht, hört sich dabei aber nicht leicht an. Andere, die mit den Öffis angereist sind, stöhnen. Schon früh am Morgen kratzte das Thermometer an der 30-Grad-Marke. Die Tram war überfüllt, die alten Kippfenster viel zu klein. Dabei wäre es gerade heute wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren:
„Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem“, sagt einer der Teilnehmenden gleich zu Beginn, als wäre das alles hier von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Moderatoren Dirk von Gehlen, Natie Wiedhopf und Rönke von der Heide müssen direkt einmal ausbremsen und den mentalen Raum ganz weit öffnen, bevor ihn andere gleich schließen. Die Anweisung, die die Moderatoren den Anwesenden für die bevorstehende Arbeit geben: erst mal zuhören, wenn andere reden. Keine Gegenrede, keine Rechtfertigung. Einfach nur Stille. Das Ziel: Die Beteiligten sollen raus aus ihren Fachsilos kommen, weg von ihren Branchenlogiken. Einige nicken, als sei das selbstverständlich. Andere verschränken die Arme vor der Brust, als wären sie seit Jahren nicht in dieser Ungeschütztheit gewesen. Es wirkt wie der Beginn einer Probe, von der niemand weiß, ob am Ende überhaupt ein Stück herauskommt.


Zur Auflockerung sollen sich alle Emoji-Sticker an die Kleidung heften und daran ihre Haltung zum ÖPNV erklären. Eine Teilnehmerin hat sich für die Discokugel entschieden, weil Mobilität so facettenreich sei. Eine andere hat die Schwebebahn gewählt – wie die in Wuppertal –, weil Mobilität gerne auch mal überraschen darf, sagt sie. Ein Dritter zeigt stolz den Traktor, weil der ihn an seinen Erlebnisbauernhof erinnere.
Dann sortieren von Gehlen und von der Heide die Anwesenden in drei gemischte Gruppen und schicken sie in unterschiedliche Konferenzräume, denen jeweils ein Themenschwerpunkt zugewiesen ist. In Raum 1 soll über das Verhältnis von Handel und ÖPNV gesprochen werden. In Raum 2 dreht sich alles um Tourismus und Mobilität. Und die Teilnehmenden in Raum 3 nehmen sich den suburbanen Verkehr vor – oft vergessen, obwohl dort die halbe Republik wohnt.
In Raum 228 wird direkt losgefeilscht. „Der Handel will nicht Parkplätze. Der Handel will das, was der Kunde will“, sagt einer. Klare Ansage. Überraschend viel Einverständnis. Was, wenn Kund:innen gar nicht das Auto wollen, sondern nur den Zugang? Die Nähe? Die Bequemlichkeit? Post-its werden verteilt, Eddings gezückt, aber teilweise noch sehr zögerlich angesetzt – als müsse man den eigenen Gedanken erst ihr Format suchen. Die Fragen verschieben sich, praktische Überlegungen kommen dazu: Sollte der ÖPNV seine Takte stärker an Ladenöffnungszeiten ausrichten? Brauchen wir vielleicht On-Demand-Shuttles, die einkaufstauglich sind, von Tür zu Tür fahren, mit fest buchbaren Sitzplätzen? Oder einfach mehr Haltestellen direkt vor den Supermärkten?




Ideen überlagern sich, Notizzettel doppeln sich, werden übereinander fixiert, spontan umsortiert, Thesen rekonstruiert, abgerutschte Zettel hastig neu fixiert. Eine Teilnehmerin fotografiert die Ideensammlung ab, falls die Klebestreifen nicht halten – sicher ist sicher. Prozess statt Perfektion. Aber mit jedem Klebezettel wächst die Vision. Einer sagt: „An Knotenpunkten bräuchte es eine Kompetenzstelle Bahnhofsvorplatz, die Handel und Verkehr zusammenbringt.“ Eine Teilnehmerin ergänzt: „Oder Mobilitäts-Incentives an der Supermarktkasse: Wer mit dem Bus kommt, bekommt den Liter Milch 20 Cent günstiger.“ Und warum gibt es immer noch keine Mietlastenräder, die man einfach überall abstellen kann?


Eine Tür weiter, in Raum 227, beim Fokusthema Tourismus, steht für die Teilnehmenden fest, dass man Mobilität nicht als Pflicht begreifen sollte, sondern als Möglichkeit – für die Freizeit, für die Erholung, aber auch für die Wirtschaft. Der Erlebnisbauer erzählt, dass sein Hof jedes Jahr Hunderttausende Besucher anziehe – aber alle mit dem Auto kommen. „Es gibt keine Busverbindung, nicht mal für die Hauptveranstaltungen. So werden gute Ideen gleich eingemauert.“ Und die Gruppe sinniert über Lösungsansätze: Ein verpflichtender ÖPNV-Schlüssel für neue Freizeitangebote müsse her, heißt es, außerdem zusätzliche Angebote und Vorteile für ÖPNV-Nutzer:innen – Premium-Busse, die direkt ins Wandergebiet fahren. Shuttle-Systeme, die im Urlaub dein Gepäck übernehmen, mehr Kooperationen zwischen Hoteliers und Verkehrsverbünden.


Es gibt so viele Notizen und so wenig Platz an der Wand, dass selbst der Touchscreen zugekleistert wird mit Ideen. „Wenn ich im Urlaub bin, möchte ich nicht mit 17 unterschiedlichen Apps rumschlagen“, sagt einer. „Ich möchte eine einfache Reisekette, vom Zug in den Bus, ohne Tarifdschungel.“ Selbst für Familien mit zwei Kindern, die mit dem Elektroauto anreisen, ließen sich passende Lösungen finden. Und letztendlich würden alle von solchen Maßnahmen profitieren: Mehr ÖPNV würde einen geringeren Flächenverbrauch bedeuten, die CO₂-Bilanz verbessern, Besucherströme leichter lenken lassen und die Attraktivität der jeweiligen Destination steigern. „Tourismusdestinationen sind die perfekten Experimentierfelder für den ÖPNV“, hält eine Anwesende fest.




In Raum 226 wagen die Teilnehmenden eine ehrliche Bestandsaufnahme zur Mobilität im ländlichen Raum – und ziehen eine ernüchternde Bilanz: Verbundgrenzen, die die Zusammenarbeit verhindern; Kommunen, die lieber parallel planen; Planungszyklen, die im Takt von Jahrzehnten laufen – im krassen Gegensatz zu Lebensrealitäten vieler Menschen. Eine Teilnehmerin sagt, dass Konzepte wie das der 15-Minuten-Städte nett seien, in manchen Mittelstädten aber völlig nutzlos. „Wenn man da nicht früh genug bremst, ist man schon wieder draußen.“ Und Neubauquartiere würden oft da ausgewiesen, wo es gerade keine Anbindung an den ÖPNV gibt. Deprimierte Gesichter, betroffenes Nicken. „Die Daten dazu existieren, aber keiner nutzt sie.“ Das Ziel: Der Flickenteppich muss weg, skalierbare Standards müssen her.
Als die Nachmittagshitze in den warmen Abend kippt, tauchen alle im Plenum wieder auf. Die Luft ist verbraucht, die Köpfe sind leer, die Notizblätter voller Selbstkorrekturen. Ein Beamer wirft die fünf wichtigsten Erkenntnisse des Tages an die Wand – zusammengefasst von der KI, die die Teilnehmenden um ihre Take-aways per Sprachnachricht bittet und die Ergebnisse miteinander verwebt. Es sind keine fertigen Konzepte oder perfekten Lösungen, keine Zauberformeln. Aber es sind erste Schritte, Impulse für eine neue Mobilitätskultur.


Die wichtigste Erkenntnis des Tages aber: Die Mobilitätswende beginnt nicht mit neuen Technologien. Mobilität muss als System verstanden werden, das nur funktioniert, wenn Menschen einander verstehen wollen. Eine Teilnehmerin gibt zu, dass sie kaum ausgehalten hat, nicht sofort zu kontern; dass sie gemerkt hat, wie selten ihr Beruf echtes Zuhören noch zulässt: „Es war ein ziemlicher Kraftakt, den Autopiloten der schnellen Argumente auszuschalten.“ Zukunft aber liegt nicht in großen Worten, sondern in kleinen Haltungen: in dem Mut, eigene Routinen und Muster zu hinterfragen; in dem Respekt, andere Perspektiven gelten zu lassen; und in der Bereitschaft, Komplexität auszuhalten und zu teilen. Manchmal reicht genau das, um eine Bewegung zu beginnen.

Die Ideenschmiede
Im Rahmen des Denkraum25 ist unter anderem auch das Audio-Format „16 Minuten“ entstanden. Genau so lange verbringen ÖPNV-Nutzer:innen nämlich im Schnitt täglich in Bus und Bahn. Wir haben Menschen aus der Branche, erfahrene Pendler:innen, Expert:innen und sympathische Sitznachbarn ins Podcast-Studio unseres ÖPNV-Stands auf dem Open Space der IAA eingeladen und mit ihnen darüber gesprochen, wie Mobilität wirklich funktioniert, was sie antreibt und wie sie unsere Städte verändern kann. Jede Folge taucht in ein eigenes Thema eintaucht in ein eigenes Thema ein, erklärt Zusammenhänge, zeigt Herausforderungen – und macht Lust auf Bewegung. Alle Folgen von „16 Minuten“ findet Ihr hier, weitere Infos und Impressionen zum Denkraum25 hier.


